Zaertliche Brandung - Roman
tretend. Sie sah Sam an.
»Wo soll ich sitzen?«
Er zeigte auf einen Stuhl zu seiner Rechten. Der Mann, der daneben saß, zog den Stuhl hervor.
»Danke«, sagte sie. Als sie sich setzte, ließ sie ihre monströse Tasche auf den Tisch fallen und fing sofort an, darin zu kramen.
Mit kaum gezügelter Geduld und dann mit wachsender Verwunderung sahen Sam und alle Anwesenden zu, als Miss Kent die zerrissenen Halter ihrer Reisetasche hervorzog und sie auf den Tisch legte. Dann war eine prall gefüllte Brieftasche an der Reihe, ein Schlüsselring, so massiv, dass man ein Frachtschiff damit versenken konnte, drei Packungen Airline-Erdnüsse, eine Packung Taschentücher, ein Adressbuch und ein bis zur Unkenntlichkeit zerquetschter Schokoladenriegel. Als sie leise etwas vor sich hin murmelte, verloren sich ihre Worte in der Höhle ihrer Tasche.
Heraus kamen ein Mini-Radio und Kopfhörer. Noch mehr Papiertaschentücher. Ein ramponiertes Taschenbuch mit einem Stift als Lesezeichen. Ein Brillenetui. Schließlich tauchte ein zusammengefaltetes Durcheinander von Papieren in ihrer Hand auf.
Mit zaghaftem Lächeln, das niemandem Bestimmten
galt, entfaltete Miss Kent die Papiere, zog ein Blatt hervor und schob es Sam zu.
»Meine Vollmacht.« Sie ließ ihren Blick um den Tisch wandern und stand sodann auf.
»Ich sollte mich vorstellen. Ich bin Willamina Kent, eine Freundin Brams. Er bat mich, ihn heute hier zu vertreten und meine Stimme abzugeben.« Sie lächelte allen zu und wandte sich dann erwartungsvoll an Sam.
»Sie können anfangen«, gab sie ihm leise Anweisung, als sie sich wieder setzte und ihren Kram in die Tasche stopfte.
»Danke«, antwortete er gedehnt, griff nach dem Papier und überflog es. Es stimmte, Bram hatte Miss Kent die Vollmacht erteilt. Seine deutliche Unterschrift prangte groß und breit unter dem von einem Notar aufgesetzten Schriftstück. Sam kniff die Augen zusammen und las die handschriftliche Notiz am rechten Rand: Burschen, seid ja nett zu der Dame.
Sam, der sich ein Lächeln verkneifen musste, eröffnete die Sitzung und teilte den Verwaltungsratsmitgliedern mit, was diese schon wussten: Abram Sinclair war müde und nicht mehr imstande, das Unternehmen weiterhin zu leiten. Verdammt, er hätte schon vor zehn Jahren zurücktreten sollen. Purer Eigensinn hatte ihn weitermachen lassen, schließlich aber hatte das Alter Bram eingeholt, und Tidewater brauchte einen neuen Chef.
»Wo steckt Abram? Warum übergibt er die Leitung
nicht persönlich?«, fragte eines der Mitglieder Miss Kent mit gerunzelter Stirn.
Miss Kent schob ihr Kinn vor.
»Er macht noch immer Urlaub. Ich gebe meine Stimme an seiner Stelle ab.«
»Aber wo ist er?«, wollte Benjamin Sinclair wissen.
Ben war der mittlere der Sinclair-Brüder. Auch er strebte die vakante Position an. Er war ebenso dafür erzogen worden wie Sam und sein jüngerer Bruder Jesse. Alle drei waren heute anwesend, jeder hoffte, die Verwaltungsratsmitglieder davon zu überzeugen, dass er für diese Aufgabe der Beste wäre – auch wenn Miss Kents Stimme den Ausschlag geben würde.
Oder vielmehr Brams Stimme, die Miss Kent stellvertretend abgeben würde.
»Er ist in Maine«, sagte sie zu Ben.
»Das nenne ich eine genaue Auskunft«, sagte Ben sarkastisch.
»Wo in Maine?«
»Er wollte nicht, dass ich es verrate.«
»Woher sollen wir wissen, dass Bram noch am Leben ist?«, fragte ein anderer der Anwesenden mit argwöhnischem Blick, der Willamina galt.
Sam sprang in die Bresche, ehe sie antworten konnte.
»Bram hat uns heute durch ein Kabel davon in Kenntnis gesetzt, dass Miss Kent ihn vertreten würde.«
»Woher sollen wir wissen, dass er es war, der das Telegramm geschickt hat?«
»Er war es«, beruhigte Sam ihn, »Brams Wortwahl ist unverkennbar. Also, fangen wir an.« Er wandte sich an die Wachtel.
»Miss Kent. Wir sind drei, die sich um die Position des Vorstandsvorsitzenden bewerben. Ich, mein Bruder Benjamin«, sagte er und nickte Ben zu, der das Nicken erwiderte, »und unser Bruder Jesse.«
Sie bedachte jeden mit einem Lächeln.
»Wie Bram Ihnen sicher erklärt hat, muss die fragliche Position zumindest vorübergehend besetzt werden, bis er entscheidet, was aus Tidewater werden soll«, erklärte Sam.
»Ich nehme an, dass er diesen kleinen Urlaub dazu benutzt, um darüber nachzudenken. In der Zwischenzeit ist Tidewater ohne Führung.«
Sie nickte mit angespannter Miene.
»Jesse, du beginnst. Meine Damen und Herren, stellen Sie im weiteren
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