Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
aufgebrochen. Dieser Besitz der Vestrits lag weit von Bingtown entfernt und war so bescheiden, dass Ronica sich dort in Sicherheit wähnte.
Sie hatte an diesem Tag noch einen kurzen Abstecher zu der Stelle unternommen, an der Davad Restates Kutsche in der Nacht zuvor überfallen worden war. Dort war Ronica von der Straße die bewaldete Böschung hinuntergeklettert, vorbei an der umgekippten Kutsche bis zu Davads Leichnam. Sie hatte ihn mit einem Tuch bedeckt, da sie nicht die Kraft gehabt hatte, seinen Leichnam wegzutragen, damit er beerdigt werden konnte. Dieser letzte armselige Respekt war alles, was sie einem Mann bieten konnte, der fast ihr ganzes Leben lang ein loyaler Freund gewesen war, sich jedoch während der letzten Jahre zu einer gefährlichen Belastung entwickelt hatte. Vor dem zugedeckten Leichnam rang sie nach Worten und schüttelte dabei den Kopf. »Du warst kein Verräter, Davad, das weiß ich. Du warst gierig, und deine Gier hat dich närrisch gemacht, aber ich werde niemals glauben, dass du Bingtown willentlich verraten hast.« Danach war sie wieder auf die Straße zu Rache zurückgeklettert. Die Dienstbotin sagte nichts über den Mann, der sie in die Sklaverei getrieben hatte. Falls Davads Tod ihr Befriedigung bereitete, ließ sie sich das nicht anmerken. Dafür war Ronica ihr dankbar.
Die chalcedeanischen Galeonen und Segelschiffe kehrten nicht sofort zum Hafen von Bingtown zurück. Ronica hatte gehofft, dass jetzt Frieden einkehren würde. Stattdessen entbrannte jedoch ein noch viel schrecklicherer Kampf zwischen den Alten und den Neuen Händlern. Jetzt focht Nachbar gegen Nachbar, und diejenigen, die keine Loyalität kannten, stellten denen nach, die von diesen Zwisten geschwächt waren. Am helllichten Tag brachen Feuer aus. Während Ronica und Rache Bingtown verließen, kamen sie an brennenden Häusern und umgestürzten Kutschen vorbei. Das Heer der Flüchtlinge verstopfte die Straßen.
Neue und Alte Händler, Diener und entlaufene Sklaven, Bettler und Drei-Schiffe-Fischer, sie alle flohen vor dem merkwürdigen Krieg, der plötzlich in ihrer Mitte ausgebrochen war.
Selbst bei der Flucht aus Bingtown kämpften sie noch gegeneinander. Spötteleien und Beleidigungen flogen zwischen den Gruppen hin und her. Die großartige Vielfalt der sonnigen Stadt an dem blauen Hafen war in höchst verdächtige Fragmente zerfallen. In ihrer ersten Nacht unterwegs wurden Ronica und Rache im Schlaf ihrer Kleidung und ihrer Nahrungsmittel beraubt. Sie setzten ihre Reise fort, weil sie glaubten, genug Kraft zu haben, Ingelhof auch ohne Proviant erreichen zu können. Die Leute auf der Straße erzählten, dass die Chalcedeaner wieder nach Bingtown zurückgekehrt wären und die ganze Stadt brenne. Am frühen Abend des zweiten Tages hielten einige vermummte junge Männer sie an und forderten die Herausgabe ihrer Wertsachen. Als Ronica antwortete, dass sie nichts Wertvolles dabeihabe, schlugen die Halunken sie nieder und durchsuchten ihren Kleidersack, wobei sie ihre Kleidung verächtlich auf die Straße warfen. Andere Flüchtlinge hasteten vorbei, sahen aber nicht hin. Niemand mischte sich ein. Die Wegelagerer bedrohten auch Rache, aber die ehemalige Sklavin ertrug es mit stoischer Gelassenheit. Die Banditen ließen schließlich von ihnen ab und kümmerten sich um fettere Beute, einen Mann mit zwei Bediensteten und einem schwer beladenen Handwagen. Seine beiden Diener flohen vor den Räubern und ließen den Mann allein zurück, der bettelte und fluchte, während die Diebe den Wagen durchsuchten. Rache zog heftig an Ronicas Arm. »Wir können nichts tun. Wir müssen unser eigenes Leben retten.«
Am Morgen stießen sie auf die Leichen der Inhaberin des Teegeschäfts und ihrer Tochter. Die anderen Flüchtenden traten hastig um die beiden Leichen herum, Ronica brachte das nicht fertig. Sie blieb stehen und sah der Frau in das verzerrte Gesicht. Sie kannte ihren Namen nicht, aber sie erinnerte sich an ihre Teebude auf dem Großen Markt. Ihre Tochter hatte Ronica immer mit einem Lächeln bedient. Sie waren keine Händler gewesen, weder Alte noch Neue, sondern bescheidene Menschen, die in die große Stadt gekommen waren, um ein kleiner Teil von Bingtowns Vielschichtigkeit zu werden. Jetzt waren sie tot. Nicht Chalcedeaner hatten diese Frauen getötet, sondern Leute aus Bingtown.
Das war der Moment, in dem Ronica sich umdrehte und nach Bingtown zurückkehrte. Sie konnte Rache ihre Beweggründe nicht erklären. Selbst
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