Zaubersommer in Friday Harbor
etwas zu
Ende zu bringen. Sie wechselte häufig den Arbeitsplatz, fing Projekte an und
schloss sie nie ab, beendete Beziehungen, bevor sie sich entwickeln konnten.
Der erste Eindruck, den sie auf andere machte, war immer großartig. Sie war
charismatisch, attraktiv und witzig. Aber sie lernte Leute ebenso schnell
kennen, wie sie sich ihnen wieder entfremdete. Offensichtlich mangelte es ihr
einfach an der Ausdauer für die banalen Alltagssituationen, die eine Beziehung
festigten.
In den
letzten anderthalb Jahren hatte sie als Junior-Drehbuchschreiberin für eine
langfristig angelegte Daily Soap gearbeitet. Länger hatte sie es noch in
keinem Job ausgehalten. Sie lebte in Seattle und flog gelegentlich nach New
York, um den Handlungsrahmen der TV-Serie mit den Chefautoren zu besprechen.
Lucy hatte sie selbst mit Kevin bekannt gemacht, und sie waren ein paarmal
gemeinsam ausgegangen, aber Alice hatte nie Interesse an ihm gezeigt.
Dummerweise war Lucy nie der Verdacht gekommen, dass Alice sich nicht nur ihre
Sachen „borgte”, sondern sogar so weit ging, ihr den Freund zu stehlen.
Wie hatte
es zwischen den beiden angefangen? Wer hatte den ersten Schritt getan? War Lucy
wirklich so anhänglich, dass Kevin die Flucht ergreifen musste? Wenn die
Schuld nicht bei ihm lag, dann konnte sie nur bei ihr liegen, oder? Irgendwer
musste Schuld haben.
Sie kniff
die Augen zu, um die Tränen zurückzuhalten.
Wie dachte
man über etwas nach, das so wehtat? Was fing man mit den Erinnerungen, Gefühlen
und Bedürfnissen an, die plötzlich in der Luft hingen?
Mühsam
rappelte Lucy sich auf und ging hinüber zu ihrem alten Fahrrad, das neben der
Tür stand. Es war ein altes türkisfarbenes Citybike der Marke Schwinn mit
drei Gängen und einem Korb vor dem Lenker, ein echter Oldtimer. Sie griff nach
dem Schutzhelm, der an einem Haken neben der Tür hing, und schob das Rad nach
draußen.
Es war
dunstig geworden. Am Horizont streckten Douglasien ihre Spitzen den Wolken
entgegen, die wie feinster Seifenschaum den Himmel überzogen. Die feuchte
Kühle ließ Lucy frösteln, als ein Windhauch ihre nackten Arme streifte. Ohne
Richtung, ohne Ziel fuhr sie los. Sie trat in die Pedalen, bis ihre Beinmuskeln
brannten und ihre Brust schmerzte. Dann hielt sie auf einem Parkstreifen neben
der Straße an. Von hier führte ein schmaler Pfad hinunter zu einer Bucht im
Westen der Insel. Sie schob das Rad über den unebenen Pfad, bis sie an die
steilen Klippen aus verwittertem rotem Basalt mit Einschlüssen von reinem
Kalkstein kam. Es war Ebbe. Unten am Strand tippelten Raben und
Möwen über den Sand und suchten zwischen dem Treibgut nach Fressbarem.
Die
Ureinwohner der Insel, ein Stamm der Küsten-Salish, hatten hier früher Muscheln
und Austern gefischt und Lachse in ihren Netzen gefangen. Sie glaubten, die
Fülle an Nahrung, die diese Meerenge ihnen bot, sei das Geschenk einer Frau,
die vor langer, langer Zeit das Meer geheiratet habe. Eines Tages ging sie
schwimmen, und die See nahm die Form eines hübschen jungen Mannes an, der sich
in sie verliebt hatte. Ihr Vater gab nur zögerlich seine Einwilligung zur
Hochzeit, und anschließend verschwand die Frau mit ihrem Geliebten im Ozean.
Zum Dank dafür bot das Meer den Inselbewohnern seither reiche Ernten.
Schon als
Kind hatte Lucy diese Geschichte geliebt. Sie war fasziniert von der
Vorstellung, eine Liebe könne so allumfassend sein, dass es nichts ausmachte,
sich darin zu verlieren. Alles dafür aufzugeben. Aber diese romantische Form
der Liebe gab es nur in der Kunst, in der Literatur und in der Musik. Sie hatte
nichts mit dem wahren Leben gemein.
Jedenfalls
nicht mit ihrem Leben.
Sie stellte
ihr Rad auf den Ständer, nahm den Helm ab und machte sich auf den Weg hinunter
zum Strand am Fuß der Klippen. Er bestand aus Kies, größeren runden Steinen
und Flächen aus grauem Sand, auf denen sich Treibholz angesammelt hatte.
Während sie langsam dahinschlenderte, überlegte sie, was sie jetzt tun sollte.
Kevin wollte sie aus dem Haus haben. An einem einzigen Nachmittag hatte sie
ihr Zuhause, ihren Partner und ihre Schwester verloren.
Die Wolken
senkten sich und vertrieben das restliche Tageslicht. In der Ferne ließ eine
Gewitterwolke Regenschauer auf den Ozean niedergehen. Sie bewegten sich wie
Gardinen im Wind. Ein Rabe erhob sich über dem Wasser in die Luft, die
Schwungfedern seiner Flügel gespreizt wie Finger. Er schwang sich in einen
Aufwind und flog landeinwärts davon. Das Gewitter kam
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