Zeichen im Schnee
sagte Sammy.
«Nein», sagte Edie. In ihr machte sich eine eigenartige Ruhe breit. «Dann hätten sie oben angefangen zu graben. Wer auch immer das ist, weiß, was er tut. Sie wollen uns lebendig rausholen.»
Das rhythmische Hacken der Axt war jetzt deutlich zu hören. Sie arbeitete sich unaufhörlich durch den komprimierten Schnee. Nach einer gefühlten Ewigkeit schimmerte ein grauer Lichtstrahl durch die Wand.
«He! Ist da jemand?», rief eine Stimme.
Es war Megan Avuluq.
Die Erleichterung durchströmte Edies Brust und schoss ihr zischend ins Gesicht wie ein elektrischer Schlag. Sie hörte sich selbst keuchen, dann Sammys Stimme: «Wir sind hier! Wir sind hier!»
Eine Minute später öffnete sich eine Spalte im Schnee. Kurz strömte Tageslicht zu ihnen herein, dann wurde es wieder dunkler, als Zach Barefoots Gesicht in dem Loch auftauchte. Lautes Juchzen erklang.
«Na, ihr da unten? Lust auf Frühstück?»
Als sie sahen, in welchem Zustand sich Sammy und Derek befanden, waren sie nicht mehr ganz so fröhlich, und als Edie ihnen erzählte, wie sie dorthin gekommen waren, verstummten sie ganz. Sobald sie die drei befreit hatten, schlug Zach ein Biwak auf, scheuchte sie hinein und zündete einen Ölkocher an. Er packte sie in Rettungsdecken, während Megan die Erfrierungen untersuchte und ihnen heißen, süßen Tee einflößte. Später bliebe noch genug Zeit, um zu erklären, wie sie die drei gefunden hatten. Im Augenblick war nur wichtig, sie möglichst schnell zurück nach Nome und ins Krankenhaus zu kriegen.
Zach benutzte sein Satellitentelefon und bekam sofort Verbindung zur Telefonzentrale der Polizei. Man versprach, unverzüglich den Helikopter und einen Arzt zu schicken. Außerdem holten sie sich wegen der Erfrierungen Rat und beschlossen, auf den Arzt zu warten. Sie sollten versuchen, das Gewebe vorsichtig mit warmem Wasser aufzutauen, doch so lange noch die geringste Gefahr bestand, dass der Hubschrauber wegen Wetter nicht fliegen konnte und das Gewebe wieder gefror, sollten sie mit dem Auftauen kein Risiko eingehen.
Kurz darauf kam der Helikopter. Edies Hände, die es nicht ganz so schlimm erwischt hatte, fingen bereits an aufzutauen, und der Schmerz war gewaltig. Sammy und Derek waren immer noch zu taub, um von ihren Erfrierungen viel zu spüren, und den Blicken nach, die Zach und Megan tauschten, war Edie klar, dass es um die beiden noch schlimmer stand, als selbst sie befürchtet hatte.
Sie brachen auf. Zach band die beiden Schneemobile aneinander und machte sich allein auf den Rückweg nach Nome. Megan flog im Hubschrauber mit. Sie trug Uniform, und sie war bewaffnet.
Als sie in der Luft waren, sagte sie: «Als ihr nicht wiedergekommen seid, haben wir Chrissie Caley angerufen. Sie meinte, zwei Rennhelfer hätten euch erlaubt, allein im Rasthaus auf Sammy zu warten.» Kurz darauf hatte Caley sie zurückgerufen. Sammys Hundeteam war in White Mountain aufgetaucht, lahmend und führerlos. Sie zogen immer noch den Schlitten, aber die Abdeckplane fehlte.
«Wir haben die Blauhemden gerufen, aber die haben uns abgebügelt. Zach meinte, sie wären immer noch sauer wegen der Harry-Larsen-Geschichte. Sie finden, wir mischen uns in ihre Angelegenheiten ein. Ist ja auch egal. Jedenfalls meinten sie nur, sie hätten momentan mit dem Besuch von Marsha Hillingberg genug am Hals, würden aber den Rettungshubschrauber losschicken, sobald sich das Wetter gebessert hat.»
Marsha Hillingberg. Die hatte Edie bei dem ganzen Zirkus in den letzten vierundzwanzig Stunden völlig vergessen. Megan bemerkte ihren Blick.
«Hör mal, Edie.» Sie wandte sich von den Männern ab und beugte sich so dicht zu ihr, dass sich beinahe ihre Nasen berührten. «Du musst damit aufhören», sagte sie ernst. «Was auch immer du Marsha Hillingberg unterstellst, du hast überhaupt keine Beweise.»
«Ich habe Detective Truro.»
«Glaubst du im Ernst, Truro bekommt es hin, die Sache zu schaukeln? Edie, du weißt nicht, wie die Dinge hier laufen. Seit einem halben Jahrhundert wird Alaska von denselben alten Pionierfamilien regiert, die sich gegenseitig das Geld zuschieben, sich die Hände schütteln, sich die Posten zuschustern, ihre Tagesordnungspunkte durchdrücken und jeden Neuen erfolgreich wieder rausdrängen. Marsha Hillingberg ist die erste echte Möglichkeit eines politischen Wandels, den die Alaskaner präsentiert bekommen, seit sie Alaskaner wurden. Glaub mir, von der wird sich niemand abwenden, nur weil du ein grobkörniges
Weitere Kostenlose Bücher