Zeichen im Schnee
sich im Wind, aber sie hielt.
«Die Hunde haben es wohl nicht geschafft», sagte Sammy.
Edie drückte seinen Arm. «Aber wir», sagte sie. Außen sammelte sich der Schnee an ihrer Plane. Sie hörten es noch ein bisschen flattern, dann wurde es still, weil die Lagen immer höher wuchsen. Die Höhle begann sich langsam aufzuwärmen. Sie wurden schläfrig, aber sie wussten, dass sie nicht schlafen durften. Es gab drei Dinge, die Inuit in solchen Situationen taten. Sie sangen die alten Lieder, sie spielten die alten Spiele, und sie erzählten die alten Geschichten.
«Vielleicht kann mir einer von euch mal sagen, was hier eigentlich läuft?»
Und während sie in ihrer Schneehöhle saßen, inmitten eines heulenden Schneesturms, aus dem sie vielleicht lebend nicht wieder rauskamen, während die Erfrierungen sich wie dunkle Schatten über Gliedmaßen und Gesichter hermachten, erzählten Derek und Edie ihm abwechselnd ihre Geschichte, angefangen bei dem Augenblick, als Edie die kleine Leiche von Lucas Littlefish fand, bis zu ihrer letzten, verhängnisvollen Fahrt zum Rasthaus von Safety, wo sie ihren Freund zu finden hofften.
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45
Edie konnte zwar nichts hören, aber sie spürte die Geräusche von Schneemobilen unter ihren Füßen im Eis vibrieren. Das Gewicht der Luft in der Höhle sagte ihr, dass sie unter riesigen Mengen Neuschnee begraben saßen. Es ließ sich unmöglich sagen, wer da draußen näherkam. Aber es gab nur zwei Menschen, die wussten, wo sie waren. Und
die
wollte Edie ganz bestimmt nicht wiedersehen.
Sammy spürte es als Nächster, und dann auch Derek.
«Heiliges Walross!», sagte Derek.
Sammy sah auf. Sein Gesicht war über Nacht so schlimm angeschwollen, dass es wie eine fremdartige rote Knolle aussah. Es juckte und schmerzte abwechselnd, sagte er, und wenn ihm nicht schon als kleines Kind eingetrichtert worden wäre, dass Kratzen das Schlimmste war, was man bei Frostschäden tun konnte, hätte er noch viel größere Schwierigkeiten, es zu lassen. Abgesehen davon, dass er nichts zum Kratzen hatte, weil seine Hände im selben Zustand waren wie sein Gesicht.
«Ich meine, Fußspuren gibt es keine. Wir sind sicher nicht zu sehen. Man kann uns nicht mal hören.»
«Also werden wir einfach …?», fragte Sammy.
«Hoffen und beten, dass sie vorbeifahren», sagte Edie. Sie flüsterte, was ihr erst auffiel, als sie ihre eigene Stimme hörte.
«Beten», sagte Derek. «Bisschen spät dafür, oder?»
Er hatte auf der Fahrt am meisten gelitten. Sammy war es auf dem Schneemobil wenigstens gelungen, sich die Hände in die Hose zu stecken, was ihm wahrscheinlich die Finger gerettet hatte, auch wenn er dafür eine furchtbar schmerzhafte Erfrierung am Rücken hatte. So viel Glück war Derek nicht vergönnt gewesen. Er hatte weniger an als die anderen, und seine Hände waren völlig ungeschützt gewesen. Sie waren immer noch gefroren, und die Haut bauschte sich wie ein Segel in einer steifen Brise. Das Fleisch unter der Haut verfärbte sich bereits dunkel. Wenigstens war sein Sehvermögen teilweise wieder zurückgekehrt, zumindest bildete er sich das ein. In der Höhle war es zu dunkel, um wirklich sicher zu sein. Vielleicht waren die komischen Schleier vor seinen Augen auch eine Folge des Frostes. Vielleicht war es auch nur das, was blinde Menschen eben sahen.
Das Zittern war stärker geworden und wurde inzwischen vom undeutlichen Surren der Motoren begleitet. Das Geräusch kam übers Eis. Edie legte das Ohr an den Boden.
«Es sind zwei», sagte sie. «Ganz in der Nähe.»
Sie drängten sich eng aneinander und wagten es kaum, zu atmen. Dann klang das Geräusch plötzlich wieder gedämpfter.
Das Ohr wieder auf dem Eis, sagte Edie: «Sie sind vorbeigefahren.» Und dann: «Sie sind stehen geblieben.»
Langsam wurde das Geräusch lauter, dann verstummte es ganz.
Wer auch immer da draußen war, hatte direkt neben ihnen angehalten.
Plötzlich hörten sie ein neues Geräusch. Edie atmete tief ein. Ein rhythmisches Stampfen, irgendwo über ihnen. Sie legte das Ohr an die Decke des winzigen Verstecks. Das Geräusch war etwa auf Schulterhöhe.
Jemand führte eine Eisaxt.
Da merkte sie, dass sie keine Angst hatte, zu sterben. Sie hatte nur Angst vor den Schmerzen, die dem Sterben vorausgingen.
Von der Stelle, die dem Geräusch am nächsten war, lösten sich kleine Eispartikel – Schnee, der von ihrer Atemluft geschmolzen und dann von neuem kristallisiert war.
«Sie werden uns begraben»,
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