Zeig mir den Tod
einmal, ob ich ihr aus der Distanz verzeihen kann.«
»Sie können es.« Krenz umarmte sie. Dann verließ er wortlos den Friedhof und ging die Straße hinab. Nur sein kahler Schädel war hinter der Hecke zu sehen.
Auch Freitag verabschiedete sich. »Besucht uns mal. Lilian freut sich schon auf dich, Hanna. Und Annekatrin und Jule singen euch garantiert ein Duett.«
»Ich werde die jungen Damen auf dem Saxophon begleiten.«
Als sie auf der Straße waren, fragte Hanna Moritz: »Hast du Uwe Berger gesehen? Er sitzt immer noch auf einem Stein und starrt auf das Grab.«
»Mhm.« Sie sah ihn ernst an, doch in ihren dunklen Augen bemerkte er ein Funkeln. Mit Sicherheit heckte sie schon wieder etwas aus.
»Lass uns ein Stückchen laufen. Richtung Horben hinauf. In das Dorf des Lausbuben Moritz. Heimat.«
»Und dein Rücken?«
Sie lächelte, und er strich ihr über das winzige Muttermal unter dem linken Ohr. »Eine Stunde«, sagte sie. »Dann braucht Bentley seine Medikamente. Und wir einen doppelten Espresso.«
Er nahm ihre Hand, und sie gingen los.
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42
Ende August
D er Hase ist weich. Er hat lange Schlappohren, und in dem braunen Fell sind auch schwarze und weiße Haare. Sie hebt ihn vorsichtig hoch und geht zu Bennos Stall. Der Schafbock steht vor der offenen Tür in der großen Wiese. Becci ist barfuß und trägt ein dünnes, zitronengelbes Kleid.
Der Mann sagt, der Schafbock war lange krank. Wie Becci auch. Aber jetzt geht es beiden wieder gut. Benno ist super, er leckt mit seiner rauhen Zunge über ihren Unterarm. Das kitzelt, aber sie darf nicht lachen, sonst fällt der Hase herunter.
Das ganze Gelände ist super. Ziegen, Schafe, Hasen, Katzen und ein Hund, alle können frei herumlaufen, und überall riecht es nach süßen Blüten und Früchten und Gras. Nur die Voliere ist doof. Man kann Vögel nicht einsperren! Sie müssen doch weit fliegen! Es sind viele Exoten dabei. Pfirsichköpfchen, Sittiche, Zebrafinken und sogar Tukane. Soviel sie weiß, können die hier nicht frei überleben. Deswegen sind sie wahrscheinlich in der Voliere. Sie hätte den Mann fragen können, als er Mama und ihr alles hier gezeigt hat. Aber irgendetwas hinderte sie daran.
Der Psychologe, zu dem Mama sie dreimal in der Woche fährt, sagt, dass sie Zeit braucht. Das hat Mama auch dem Polizisten gesagt, der neulich da war. Der Polizist hat geantwortet, dass sie vielleicht einfach nur ein Tier braucht. Und dass er wisse, wie gut Tiere für die Seele sind. Er hat erzählt, dass er einen alten Kater hat. Becci ist bei dem Gedanken ganz aufgeregt herumgerannt. Erst durch das Wohnzimmer, dann in Papas Zimmer, das jetzt fast leer ist, und dann zu Marius. Dort sieht alles noch genauso aus wie an dem Tag, als sie Räuber und Gendarm gespielt haben. Sie setzt sich manchmal auf sein Bett und surft auf seinem Laptop im Internet. Der Polizist hat den Laptop gebracht. Nur deswegen ist er ja gekommen.
Marius hat ihr am Rechner vieles gezeigt, aber das weiß Mama nicht. Becci findet alles heraus. Sie hat gelesen, dass Papa nicht mehr am Theater ist und dass die Frau, die seine Chefin war, gleichzeitig rausgeflogen ist. Alle haben über die Chefin, Edith Berger, geschimpft und böse Sachen geschrieben. Aber inzwischen ist sie tot. Über Papa steht Blödes und Gutes im Internet und in Mamas Zeitung, aber über Marius, sich selbst und das Gefängnis hat sie nichts gefunden, außer irgendwas mit familieninternem Drama. Ist auch klar, denn der Polizist hat zu Mama gesagt, dass sie zu Rebeccas Schutz keine Details an die Presse gegeben haben, und Mama hat sich bedankt.
Der Polizist ist auch auf der Beerdigung von Annika und Marius gewesen. Dort hat sie ihn fragen wollen, ob er Marius den Tod gezeigt hat, weil Marius doch jetzt auf der brombeerfarbenen Wolke sitzt, und irgendwie hat er ja dorthin kommen müssen. Ihr Bruder hat es nicht gewusst, sonst hätte er es ihr, Becci, erklärt, als sie gefragt hat! Aber ein Polizist muss es wissen! Sie ist ganz sicher. Aber sie hat ihn nur anschauen können. Er hat irgendwie lustig ausgesehen, weil er so zerzauste Haare auf einer Seite des Kopfes hat.
Der Hase zappelt in ihren Armen. Sie lässt Benno allein und setzt den Hasen in sein riesiges Gehege zurück. Das Gras darin ist hoch, und als sie sich auch in das Gehege setzt, springen ein paar Grillen hoch, hüpfen um sie herum und zirpen laut. Eine landet direkt auf ihrem Kleid. Sie pflückt sie ganz vorsichtig ab, um ihr nicht weh zu tun, und sieht
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