Zeig mir den Tod
die Abdrücke von den Hasenpfoten auf ihrem Kleid. Aber Mama schimpft nicht mehr. Das weiß sie.
Drüben auf der Terrasse sitzt Mama mit dem Mann. Sie trinken Apfelsaft, den hat er selbst gemacht, genauso wie den Holztisch und die Bank. Ihre Gesichter sind im Schatten, den der große gelbe Sonnenschirm spendet. Der Mann heißt Uwe und war mit Papas toter Chefin verheiratet. Mama sagt, sie kennt Uwe schon sehr lange.
Sie reden leise, aber Becci versteht jedes Wort. Die beiden sehen Becci nicht, weil das Gras zu hoch ist. Nur der Hund mit den drei Beinen schaut herüber und bellt kurz. Streuner. Uwe hat erzählt, dass er ihn auf einem Autobahnparkplatz gefunden hat. Er war nicht angebunden, aber schwer verletzt, und ist um die Bänke geschlichen, wo die Leute gegessen haben. Streuner war ganz dünn, und seine Augen waren voller Fliegen. Uwe ist mit ihm zum Tierarzt gefahren und hat ihn außerdem noch mit seiner eigenen Medizin behandelt. »Meine Tiere sind alle gerettete Seelen«, hat Uwe zu ihr gesagt und dann ganz leise gemurmelt, aber sie hat es trotzdem gehört: »Alle ausgesetzt, gequält, weggeworfen. Es ist nicht gut, dass der Mensch andere Wesen schlecht behandelt.« Becci hat sich gefreut. Sie findet das auch.
Der Hase schnuppert an ihrem großen Zeh, und weil die Schnurrbarthaare sie kitzeln, muss sie lachen. Es kommt sogar ein Glucksen aus ihrem Mund.
Mama und Uwe sind dagegen ganz ernst. Sie reden schon ewig, aber ihr wird hier nicht langweilig. Im Gegenteil. Und Uwe sieht auch lustig aus mit dem Kakadu auf seiner Schulter.
»Wie geht es dir seit Ediths Tod?«, fragt Mama Uwe.
Er hebt die Schultern, das sieht sie zwischen den hohen Grashalmen und dem Hasendrahtgitter hindurch. »Der jahrelange Betrug schmerzt mehr als das Alleinsein«, sagt Uwe, und der Kakadu schreit »aua, aua«. Uwe hat einen breiten Kamm, mit dem fährt er dem Vogel über den Kopf, es ist ein Spezialkamm zur Federpflege, hat er erklärt. Das ist süß. »Siehst du Günther noch?«, fragt er dann.
»Ich war einmal dort. Ich … ich kann ihn nicht verstoßen. Ich habe ihm ein paar Sachen aus dem Haus gebracht.«
»Du liebst ihn noch.«
Jetzt hebt Mama die Schultern. Dann weint sie.
Becci vermisst Papa. Aber Marius vermisst sie noch viel mehr. Es ist so leer in dem Haus. Sie hat vorn neben Mama sitzen dürfen in dem Porsche, als die zu Papa gefahren ist. Sie sind in eine schmale Straße eingebogen, in der Becci noch nie vorher gewesen ist. Die Häuser dort sind klein und grau, eine ewig lange Reihe, alle aneinandergebaut. Es gibt nur schmale Rasenstückchen davor, und das Gras ist gelb und vertrocknet. Aber es stehen sowieso nur Mülltonnen und Fahrräder mit platten Reifen oder ohne Sattel darauf. Vor dem Haus, wo Papa jetzt wohnt, steht immer Marius’ Golf. Becci findet es gut, dass Papa das Auto noch benützt, und als sie in Mamas Porsche gewartet hat, bis sie die Treppen hinuntergestiegen ist und die Tasche abgegeben hat, hat Becci daran gedacht, wie sie mit Marius im letzten Sommer mit dem Golf zum Tierpark Mundenhof gefahren ist und das neugeborene Kamel angeschaut hat. Es war winzig, viel dunkler als normale Kamele und hatte an den Beinen Locken. Danach haben sie zusammen Pommes gegessen, und Marius hat sie in den Bauch gestupst und gesagt: »Schön messen und spritzen, Zuckermaus!«
Ein paar Tage, nachdem Mama die Tasche abgegeben hat, ist Becci mit dem Bus zu Papa gefahren. Sie hat sich die Adresse gemerkt und im Internet die richtige Linie gegoogelt. Das hat sie Mama natürlich nicht gesagt. Papa hat sie geküsst und herumgewirbelt und »mein Engel« zu ihr gesagt. Das hat er vorher noch nie gemacht, und sie ist total erschrocken. Aber sie ist stolz auf ihren Papa. Denn sie hat auch gelesen, dass er Torben verprügelt hat. Der hat sie nämlich aus dem Wohnwagen geklaut. Der Vater von Torben hat ein Riesentheater gemacht und Papa verklagen wollen. Doch er hat es nicht geschafft, weil Torben zu Marius so gemein gewesen ist und weil er keine Hilfe geholt hat, sondern mit mir am Wasser hockte. Außerdem war er böse zu Nessy. Der Richter sagt, das alles sei viel schlimmer und dass man Papa verstehen kann, wenn er so wütend reagiert, und dass er deswegen nicht bestraft wird. Geschieht ihm ganz recht, dem Torben. Der ist jetzt eingesperrt, aber wahrscheinlich nicht lang. Sogar die Nase hat Papa ihm gebrochen. Becci hat geklatscht, als Papa ihr erzählt hat, wie es geknackt hat.
»Nächste Woche ist Urteilsverkündung«,
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