Zeig mir den Tod
Wir wissen doch gar nicht, ob etwas passiert ist, sie sind doch erst seit ein paar Stunden …« Er schob den Ärmel zurück und sah auf eine klobige Armbanduhr. Dann reichte er seiner Frau ein Taschentuch.
»Seit zwanzig nach neun!« Sie schneuzte sich.
»Lassen Sie uns von vorn anfangen«, sagte Ehrlinspiel betont ruhig und setzte sich mit Freitag auf das Sofa. Er versank sofort darin. Automatisch rutschte er nach vorn, so dass die Kante ihm Halt gab. Aus seiner Umhängetasche kramte er den kleinen Spiralblock hervor und legte ihn vor sich auf den niedrigen Tisch neben eine silberne Schale mit Obst. »Sie haben uns gegen halb fünf angerufen, weil Sie Ihre Kinder Rebecca und Marius vermissen. Wann haben Sie bemerkt, dass etwas … ungewöhnlich ist?«
Lene berichtete von Günthers vergeblicher Fahrt in die Schule.
»Donnerstags hole ich unsere Kleine immer ab«, ergänzte Assmann und stand mit fließenden Bewegungen auf. Gelenkig wie ein Zwanzigjähriger, dachte Ehrlinspiel. »Sie hat bis dreizehn Uhr fünfundfünfzig Unterricht, das passt zu dem Ende meiner Vormittagsproben.«
»Sie sind Schauspieler?« Ehrlinspiel betrachtete während seiner rhetorischen Frage die Plakate genauer.
Das weite Land. Die Ratten. Sturmhöhe.
Die Titel sagten ihm nichts. Literatur war noch nie seine Welt gewesen, auch wenn er ab und zu ein Buch las. Erst recht seit … Er tastete nach seinem Handy. Lass dich nicht ablenken, schalt er sich im selben Moment selbst.
»Ja.« Assmann ging im Zimmer hin und her. Seine Haltung war aufrecht, sein Gang fest, die Schultern waren breit. Das Timbre seiner Stimme klang wie aus einem perfekten Hightech-Verstärker. Vermutlich würde man sogar sein Flüstern noch bis in die Baumwipfel an der Grundstücksgrenze verstehen. Der Schauspieler blickte erneut auf die Armbanduhr.
»Ich habe Sie auf den Plakaten in der Stadt gesehen.«
»Als Faust.« Er blieb stehen und atmete einige Male hörbar durch.
Ehrlinspiel fragte sich, ob Günther Assmann ein so berühmter Star war, dass die Familie sich dieses Haus leisten konnte. »Was machen Sie beruflich?«, wandte er sich an Lene Assmann.
»Ich erziehe unsere Kinder.« Sie knetete das Papiertaschentuch zwischen den Fingern. »Ich kümmere mich darum, dass das Haus in Ordnung ist. Wir haben es erst vor zwei Jahren saniert. Und ich kümmere mich um den Haushalt. Bitte, Sie müssen sie finden. Bitte!«
»Berichten Sie uns von heute Vormittag.«
»Ich habe Frühstück für meine Familie gemacht. Wir haben in der Küche gesessen, alle vier. Das … das ist selten. Es war schön! Danach hat Günther die Kinder zur Straßenbahn-Haltestelle gefahren. Zu der an der Ecke Loretto-/Günterstalstraße. Von dort kommen sie schnell in die Schule und müssen nicht umsteigen.«
»Verstehe.« Er notierte ihre Angaben und wandte sich an den Mann. »Haben Sie die beiden einsteigen sehen?«
Er hob ein wenig den Kopf. »Ja. Nein. Das heißt, ich habe an dem Kiosk an der Ecke angehalten und gewartet, bis sie über den Zebrastreifen gelaufen sind. Die Haltestelle war voller Menschen.«
Lene schluchzte auf, ihr Zittern wurde stärker.
»Rebecca hat mir noch gewunken«, sagte Günther Assmann. »Dann ist die Bahn gekommen und hat die Leute verdeckt. Da bin ich losgefahren.«
Lene hob den Kopf und blickte Ehrlinspiel an. »Sie
müssen
eingestiegen sein! Nicht wahr, Günther?«
Er sagte nichts.
»Wir werden das prüfen, jemand wird sie gesehen haben«, sagte Paul Freitag. Seine pechschwarzen Augen blickten Lene Assmann offen an.
Assmann rieb sich über die Stirn. »Ich verstehe das nicht. Jetzt fahre ich meine Kinder
ein
Mal selbst, weil die beiden ersten Stunden ausfallen, und dann … Ich habe wirklich genug anderes um die Ohren gerade. Wissen Sie, ich habe einen ungewöhnlichen Tagesablauf. Normalerweise stehe ich um acht Uhr fünfzehn auf. Von zehn bis etwa vierzehn Uhr ist Probe. Und dann von achtzehn bis etwa zweiundzwanzig Uhr wieder.« Erneut ging er hin und her. »Heute Abend ist die erste Hauptprobe.«
Die offenbar ungemein wichtig ist, schoss es Ehrlinspiel durch den Kopf, als Assmann zum dritten Mal auf die Uhr sah. »Sie waren um kurz vor halb drei zu Hause, Herr Assmann. Ihre Frau hat uns erst eineinhalb Stunden später angerufen. Sie haben sicher in der Zwischenzeit mit Freunden und Verwandten telefoniert?«
»Ja, natürlich!« Assmann setzte sich auf die Sessellehne neben seine Frau und legte den Arm um ihre Schultern. »Niemand hat etwas von Marius
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