Zeilen und Tage
unter der Sonne, alte Kleinstädte in Ziegelbauweise und dunklem Stein, die bezeugen, daß die Region zur Shakespeare-Zeit zu den reichsten von Britannien zählte, voll von prächtigen Landhäusern, lichten Parks, diskreten Villen und feierlichen Luxushotels mit imperialen Namen. Eines heißt in ausgeruhter Vornehmheit einfach Lord of the Manors. Manche große Bäume stehen da wie vergessene Schatzkanzler. Man läßt sie in der Illusion, noch im Amt zu sein, und sie berufen die übrigen Gewächse in ihr Kabinett. Abends sind wir in einem ehemaligen Badehotel in Leamington, fast leer, das nach dem Versiegen der Quellen und dem Ausbleiben der Gäste in ein Resort neuen Stils umgewandelt werden soll.
19. Mai, Coventry
Rufe Ursula noch vom Hotel aus an, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren, was sichtlich gut aufgenommen wurde. Für diesmal war die berechtigte Furcht, einen vergeßlichen Bruder zu haben, wenn nicht widerlegt, so doch gemildert.
20. Mai, Warwick und Stratford upon Avon
Das Hauptereignis des Tages ist natürlich der Umzug aus dem beklemmenden Air-Condition-Gefängnis des Ramada-Turms von Coventry City – mit Ausblicken auf die Lokale an den kümmerlichen Straßen ringsum – in ein Club-Hotel auf dem Land namens Nailcote Hall, ganz in der Nähe des Campus, wo man sofort etwas vom Charme einer alten britischen Landresidenz spürt.
Die Durchsicht der englischen Übersetzung von Kultur ist eine Ordensregel – hier: culture is an obedience – kostet einen Vormittag Arbeit; es folgt ein offiziöses Mittagessen, organisiert von einem der Institute, die als Gastgeber auftreten. Wie an Universitäten üblich, plaziert man den sogenannten Höhepunkt, das groß angekündigte und stark besuchte »Streitgespräch« mit Jacques Rancière im Warwick Arts Center, auf den psychologischen Tiefpunkt des Tags, von 3 bis 5 pm, wenn die Vitalfunktionen im Keller sind.
Jeder der beiden Redner wurde von einem Präsentator eingeführt, Rancière vom Leiter des French Literature Departments, ich von Prof. Rogowski.
Irgendwie schaffe ich es, ohne Manuskript die These zu entwickeln, wonach Ästhetik in der Moderne eine Funktion in der sozialen Synthesis von Großgesellschaften wahrnimmt: Sie gibt Antworten auf die zwei basalen Fragen: Warum sollten besser wir keinen Bürgerkrieg mehr führen? − wozu die noble Lügedienlich ist, die den Frieden zwischen Ungleichen ermöglicht. Fast alle Kunst ist Fortführung der noblen Lüge mit anderen Mitteln. Und auf die andere Grundfrage: Wie sorgen wir für emotionale Kohärenz in anonymen großen Kollektiven? Antwort: Im wesentlichen bewirken wir das durch synchrones nationweites Sichaufregen über aktuelle Themen und durch Lachen und Weinen in den täglichen Komödien und Tragödien, wie sie vom Zufallsgenerator des Lebens bereitgestellt werden.
Was Rancière vorbrachte, ließ sich bis zum Ende der Veranstaltung nicht so recht ermitteln, außer daß es um Inklusion und Exklusion ging. Er sprach sehr schnell und auf idiosynkratische Weise virtuos Englisch, jedoch mit einem so extremen Akzent und einem so exzessiven Gebrauch von Floskeln und Füllwörtern, bis zu fünfzehn you know und kind of pro Minute, daß guter Wille allein den Weg zum Verstehen nicht finden konnte. Im übrigen war evident, man erwartet hierzulande bei solchen Debatten keinen Dialog, sondern ist zufrieden, wenn es zu einem halbwegs effektvollen Schaureden zweier Kontrahenten kommt. Mehrere britische Kollegen gaben ihre Enttäuschung über Rancières Auftritt zu Protokoll: In ihren Augen hatte er die Gelegenheit nicht genutzt, live besser zu wirken als in seinen Schriften.
Am Abend in Stratford upon Avon ein hastiger Imbiß mit Fish and Chips, gefolgt von einer Aufführung des Merchant of Venice . Obwohl ich das Stück fast auswendig kenne, blieb es mir fremd, stimmungslos. Was die Schauspieler in ihrer juvenilen, übertrainierten Munterkeit von sich gaben, war für mich kaum als Shakespeares Englisch zu erkennen, es klang eher wie eine überdrehte Schüleraufführung. Natürlich war ich durch zu viel Ibuprofen verstimmt.
21. Mai, Coventry
Die Autoren des Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus waren sich dessen nicht bewußt, daß eine neue Mythologie fordern unweigerliche neue noble Lügen einführen bedeutet. Der Mythos enthält ja die Antwort des Zeitgeists auf die Fragen: Wie erklären wir den Unglücklichen ihre Lage? Und wie bringen wir die Frauen dazu, ruhigzuhalten?
Der »soziale Raum« ist
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