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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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gefragt, mit halluzinatorischen Wegbeschreibungen und schicken den Fremden weiß Gott wohin. Das geschieht nicht einmal oder zweimal. Wenn du das Unglück hast, fünf nette Katalanen in Folge zu treffen, kann es dir passieren, daß du in fünf Himmelsrichtungen geschickt wirst, jedesmal mit fremdenfreundlichen Blicken und guten Wünschen für dein weiteres Schicksal.
    Vim vi repellere licet: Das historisch gewachsene Recht sieht vor, daß Angreifer mit Gewalt ausgeschaltet werden dürfen, ohne daß der Anwender der schützenden Gewalt sich strafbar machte. Der außergesetzliche Notstand »rechtfertigt« Verbrechen gegen Verbrechen, Unrecht gegen Unrecht, Gewalt gegen Gewalt. Ist dies zugestanden, kommt alles darauf an, das Notstandshandeln in die engsten Definitionen einzuschießen. Die amerikanische Praxis des letzten Jahrzehnts verrät die entgegengesetzte Tendenz: Sie entgrenzt den Ausnahmezustand und überdehnt den Notstand ins neurotische Immer, bis tatsächlich ein Zustand eintritt, den ein ruhiger Beobachter den Kampf des Bösen gegen das Böse genannt hat. Damit betritt man das Reich der »Maßnahmen«, die aus dem Arsenal des Kriegsdenkens nach 1917 stammen. Die von Lukács beklagte »Zerstörung der Vernunft« hat ihr Muster in der Zersetzung des Rechtsempfindens durch die Maßnahmen-Logik, die auf der dezisionistischen Rationalität der selbstgewährten Ausnahme beruht. Im Kern der »Maßnahme« entdeckt man stets die von einer vorgeblich höheren »zweiten Ethik« legitimierte Auslöschung des Hindernisses, das »der Feind« durch sein Dasein vor deinem freien Auslauf errichtet. Lukács hatte diese Lizenz zum Töten am Fall Raskolnikovs erläutert. Hat der Ausnahmetäter erst einmal die Linie überschritten, geht es im freien Fall von der Legitimität über die Exzeptionalität in die Bestialität.
    Mit Joseph Cohen im alten Ghetto von Girona: An der Ecke einer dunklen engen Gasse erinnert eine Plakette an einen der Gründer der spanischen Kabbala, Rabbi Moses ben Nachman, der bis zu seiner Auswanderung ins Heilige Land im Jahr 1265 hier gelebt hat. Ergreifend der vergitterte Einblick in einen kleinen Garten zwischen den schwarzen Mauern – eine Lichtinsel in der großen Enge.
    Am letzten Abend der katalanischen Exkursion nehmen mich Dolores und Isidoro mit in das Restaurant Hispània in Arenys de Mar, das von den legendären Schwestern Lolita und Paquita geführt wird, einen kulinarischen Wallfahrtsort, den Dolores noch aus der Zeit kennt, als er nicht mehr als eine Tankstelle mit Küche war. Es heißt, Juan Carlos kommt nicht in die Gegend, ohne dem Lokal einen Besuch abzustatten.
8. Mai, Berlin
    »Sturm der Geschichte – Sind Gesellschaften lernfähig?« Das Philosophische Quartett mit Juli Zeh und Daniel Cohn-Bendit, wie gewohnt in die Geisterstunde abgedrängt, zog mit 400000 Zuschauern nur ein bescheidenes Publikum an, möglicherweise weil die nordafrikanischen Ereignisse der letzten Monate in den deutschen Medien totdiskutiert worden waren.
    Gilles Kepels Ansicht, Osama Bin Laden sei schon tot gewesen, als die US-Geheimoperation ihn liquidierte, spiegelt sich wider in Alexander Kluges Intuition, wonach dieser anachronistische Tod schon zu einer ganz anderen Geschichte gehört als jener vom Einsturz der Twin Towers. Osama spielte in den arabischen Rebellionen dieses Frühjahrs keine Rolle mehr, ja, er war für die arabische Hemisphäre seit geraumer Weile mehr als tot, er war für die Jungen einfach uninteressant geworden. Seiner Auslöschung durch die Spezialtruppe kam nur noch ein Rest vonBedeutung innerhalb einer amerikanischen Rache-Erzählung zu – aus moralischer Sicht gehörte sie in die Region der niederen Reflexe, in gestaltpsychologischer Perspektive führte sie zur Sättigung einer offenen Figur.
    Kluge ahnt voraus, wie die Tötung eines Toten an dessen Auferstehung mitwirken könnte: Nimm an, spielende Delphine finden dieser Tage ein verschnürtes Paket auf offener See, sie treiben es fröhlich vor sich her, bis es irgendwo, warum nicht an der Küste Afrikas, an Land gespült wird. Die Finder des Bündels würden unweigerlich ihre Schlüsse ziehen. Nach einiger Zeit wüchse eine Kultstätte aus dem Boden, um die sich, beflügelt von polemischen Erinnerungen und utopischen Träumen, neue Erzählungen ranken.
    »Das Wunderbare ist das Lächeln des Unmöglichen.«
    Ein Freund sagt: Halte auf dich, bleib gesund, die Welt braucht uns noch eine Weile.
    Wenn wir gehen, werden wir das Gefühl

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