Zeilen und Tage
folgerichtig – sie gehen ja wirklich vom schäbigen Wirklichen aus und führen zu ihm zurück, im günstigsten Fall auf einer etwas höheren Stufe. Der Geist des ganz Neuen und Anderen bleibt dabei auf der Strecke. Bei ihm, dem aggressivsten Überlebenden von 1968, muß man also suchen, wenn man einen reinen Spätstalinismus, ergänzt durch einen unbußfertigen Maoismus, im Europa von heute finden will – so unglaublich das für zeitgenössische Ohren klingt. Aude Lancelin nannte ihn kürzlich – in einer Doppelbesprechung eines Buchs von mir und eines Buchs von ihm – treffend le der des ders, den Letzten der Letzten. Eine Formel aus den Ritterromanen.
Der Mann hat Charakter, er blickt auf die Belehrung durch das Experiment verächtlich herab. Die Zahl der Kommunismustoten übersteigt einhundertzwanzig Millionen? Kein Grund, sentimental zu werden. Eine Politik, die auf Wahrheit aus ist, behauptet er, kann nur die Form der unbedingten Setzung haben. So finden Lenin und Carl Schmitt zusammen. Dezision ist alles – den Rest besorgt das unbelehrbare Festhalten an der Anfangsthese. Dasselbe ging schon aus dem Paulus-Buch Badious ( Saint Paul − la fondation de l’universalisme ) hervor, in dem er vor ein paar Jahren seine Karten auf den Tisch legte: Es gibt keinen Gott, aber die Geste, ihn zu verkündigen, bleibt unentbehrlich für die wenigen, die es mit ihren juvenilen Postulaten ernst meinten. Die versprengten Kandidaten, die sich für diese rüde Wahrheitspolitik, den unbedingten Angriff, den abstrakten Universalismus ultrajakobinischen Stils entscheiden, bilden eine Gemeinde, die aus der Zukunft in die Gegenwart einwandert – wogegen der realeStaat von heute und die Gesellschaft, wie sie geht und steht, bloß Aggregate der Furcht und der Furcht vor der Furcht sind.
Warum Zeit verlieren mit solchem überspannten Gezeter? Vielleicht, weil auch in der politischen Theorie die Hysterie, noch durch ihre abstoßende Wirkung, anregender ist als das depressive Gemaule der Vernünftigen.
18. Mai, Birmingham
Ob die westlichen Maoisten von 1968, die bis zum Auftreten der Nouveaux Philosophes die Pariser Szene beherrschten, folgende Geschichte kannten? Der chinesische Romancier Yu Hua berichtet: Der Bürgermeister von Peking soll seinerzeit den Vorschlag gemacht haben, die Verbotene Stadt abzureißen und an ihrer Stelle Latrinen zu errichten. Volksscheißhäuser statt Palast-Esoterik. Diese Petition, die die Existenz eines Sino-Dadaismus dokumentiert, soll bis zu Mao Tse Tung vorgedrungen sein. Der ignorierte sie. Hätte er sie befolgt, hinge sein Portrait heute am Eingang zu einer Latrinenstadt am Platz des Himmlischen Friedens. Man erfährt hieraus etwas Wesentliches über den Geist der Mao-Zeit, der damals auch Westeuropa verseuchte: Es gibt einen Enthusiasmus der Profanierung, in dem die größte Gemeinheit eine Sekunde lang wie ein geistreicher Einfall wahrgenommen wird.
Noch mal zu Badiou: Sein wertvoller Gedanke ist die Schaffung eines schlechthin antidepressiven Prinzips. Er visiert einen transzendenten Punkt an, mit dem vor Augen die Zeit des Wartens auf das Unmögliche überstanden werden kann. Er formalisiert das messianische Motiv, indem er das, was nicht kommt, unerschütterlich als virtuell möglich und insofern kommend denkt. Damit macht er die Sektenlogik explizit – nicht eine christliche, sondern eine philosophische. Was ist die Sekte anderes als eine Versammlung von Somnambulen im Wartesaal zur Himmelfahrt?
Was die Rückkehr zum Primat der Politik und des Politischen bedeutet: Hochkonjunktur für Einseitigkeit, Wahnurteil, Wichtigtuerei, Alles-oder-Nichts-Entscheidung. Man wird sich bald nach der entspannten Zeit der Marktideologie und der Neutralitätsillusion zurücksehnen. Die Hetzer nehmen wieder ihre Plätze ein, die Bombenwerfer arbeiten noch im Keller. Die Kritischen von gestern sind zu geschwächt, um Wirksames dagegen aufbieten zu können.
Badious Grobheit: Frei nach Freud nennt er Sarkozy einen Rattenmann, seine Parteigänger etikettiert er geradewegs als Ratten oder Rattenschwärme. Würde Sarkozy demnächst vergiftet aufgefunden, man könnte sich denken, wer das Rattenfutter ausgestreut hat.
Nach der Ankunft im Flughafen von Birmingham geht es mit unserem Gastgeber gleich los zu einer Fahrt übers Land, nachdem wir das Gepäck im Ramada Hotel von Coventry abgelegt haben.
Bemerke erstaunt, auch England, für mich seit je Novemberland, hat einen Frühling. Blühende Landschaften
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