Todesfrauen
1
Nürnberg, im Spätsommer 1993
Der Mercedes, der vor ihrem Antiquitätengeschäft in der Pirckheimerstraße stand, war ihr ein Dorn im Auge. Er trug die gleiche beige Lackierung wie alle Taxen, aber er sah heruntergekommen aus, war schmutzbespritzt und hatte sogar den Stern auf dem Kühler eingebüßt. Kurzum ein Schandfleck, der ausgerechnet bei Gabriele Doberstein vor der Tür parkte und womöglich die Kundschaft abschreckte!
Auch der Fahrer machte einen verlotterten Eindruck: Der junge Mann war für Gabrieles Geschmack viel zu leger gekleidet: ausgelatschte Turnschuhe, abgewetzte Jeans und ausgebeulte Lederjacke. Sein schwarzes Haar war fransig, Wangen und Kinn seit mindestens drei Tagen unrasiert.
Dass Gabriele sowohl den Mercedes vor ihrem Laden als auch den Chauffeur in ihrer Teeküche duldete, hatte zwei Gründe: Zum einen war Vladi ein Charmeur. Seine blassblauen Augen, die einen starken Kontrast zu seinem Haar und dem dunklen Teint bildeten, strahlten verschmitzte Intelligenz aus und schmeichelten Gabriele ebenso, wie es Vladis Worte taten. Dass er es nahezu perfekt verstand, eine Dame reiferen Jahrgangs zu umgarnen, war jedoch der schwächere der beiden Gründe, denn Gabriele war inzwischen erfahren genug, um die Männerwelt zu durchschauen und sich nicht auf simples Kokettieren einzulassen.
Als wesentlich schwergewichtiger erwies sich der zweite Grund, den Vladi aufgetischt hatte wie ein Mehr-Gänge-Menü in einem erlesenen Restaurant – und in gewisser Weise war die Nachricht für Gabriele ähnlich köstlich wie ein delikates Essen und regte ihren Appetit an. Allerdings nicht auf Delikatessen aus der Küche, sondern auf Kunst.
Vladi war ein flüchtiger Bekannter, der Gabriele und ihre beste Freundin Sina Rubov ab und zu in seinem Taxi gefahren hatte. Sie wussten, dass er gegen einen kleinen Aufpreis auch Touren unternahm, die zu fragwürdigen Zielen führten, und selbst vor einer Verfolgungsfahrt nicht zurückscheute. So hatte Gabriele seine Visitenkarte aufbewahrt und ihn hin und wieder angerufen, wenn sie mal einen Deal mit Antiquitäten plante, der nicht ganz legal war oder aus steuertechnischen Gründen nachts und heimlich erfolgen musste. Vladi zeigte sich stets als zuverlässig und verschwiegen. Und er war schnell zur Stelle, wenn man ihn rief.
Heute Abend aber hatte Gabriele ihn nicht gerufen. Er war völlig überraschend kurz vor Geschäftsschluss aufgetaucht, hatte um ein Gespräch gebeten und sich von ihr in den hinteren Teil des Ladens führen lassen, wo Gabriele ein kleines Rückzugsrefugium eingerichtet hatte, das durch einen Vorhang vom Verkaufsraum getrennt blieb.
Nun saß er ihr gegenüber und holte weit aus. »Ich habe immer noch die besten Verbindungen ins ganze Land«, brüstete er sich, wobei Gabriele ahnen konnte, dass er mit dem Land nicht seine neue Heimat, sondern das im Zerfall begriffene Jugoslawien meinte. »Trotz des Krieges bin ich jeden Urlaub dort. Meine Verwandten in Belgrad erklären mich für verrückt, weil ich mitten durchs Kriegsgebiet fahre, um sie zu besuchen. Aber ich sage denen: Es ist immer noch mein Land, und ich lasse mich in meiner Bewegungsfreiheit nicht durch territoriale Konflikte beschneiden.« Er lächelte wie ein spitzbübisches Kind, als er Dinge erzählte, die Gabriele später noch schwer im Magen liegen würden: »Meine letzte Tour habe ich in Zagreb gestartet. Von dort aus ging’s durch entvölkerte Landstriche der Posavina, über neue Pseudogrenzen hinweg, vorbei an Ruinen, Minenfeldern und Friedhöfen nach Bosnien.«
»War das nicht sehr gefährlich für Sie?«, fragte Gabriele, wobei ihr bewusst wurde, wie wenig greifbar und transparent der ganze Balkankonflikt für sie war, obwohl man doch Tag für Tag in den Nachrichten darüber informiert wurde. Die einzige klare und deutliche Botschaft, die sie aus Zeitungen und Fernsehen aufgeschnappt hatte, bestand darin, dass die Serben in den Augen der Weltöffentlichkeit die Rolle der Bösen in diesem Krieg spielten und die anderen Volksgruppen und ethnischen Minderheiten ihre Opfer darstellten. Vladi war Serbe – gehörte er damit automatisch zu den Bösen?
»Ich muss mich natürlich vorsehen und darf niemandem auf die Nase binden, wer ich bin und woher ich stamme. Aber woran – außer an meinen Papieren – sollten es die Leute denn merken?« Er sah sie mit seinem entwaffnend ehrlichen Blick an und grinste. »Wenn ich unterwegs bin und ein Wirtshaus finde, das noch nicht zerbombt
Weitere Kostenlose Bücher