Zeit deines Lebens
seinen Blick und begann, an einer Ecke des Terminplans herumzufummeln. »Na ja, es ging darum, dass Sie letzte Woche dieses Meeting verpasst haben … «
»Geht das vielleicht ein bisschen genauer, bitte?«
»Okay, gut«, erwiderte sie ärgerlich. »Also, nach dem Meeting mit Mr Sullivan letzte Woche hat er – ich meine Alfred … « – sie schluckte – » … hat Alfred angeregt, dass ich ein bisschen strenger mit Ihnen sein soll. Er weiß ja, dass ich neu bin, aber er hat mir den Rat gegeben, ich soll dafür sorgen, dass Sie nicht noch mal so ein wichtiges Meeting verpassen.«
Lou kochte innerlich, seine Gedanken rasten, und er konnte sich nicht erinnern, jemals eine solche Verwirrung empfunden zu haben. Sein Leben lang hastete er von einem zum anderen, verpasste die Hälfte des Ersten, um das Ende des Zweiten gerade noch zu erwischen. Jeden Tag war es das Gleiche, von morgens bis abends, immer hatte er das Gefühl, dass er sich beeilen musste und eigentlich schon zu spät dran war. Das war anstrengend und ermüdend. Er hatte große Opfer gebracht, um die Position zu erreichen, die er heute innehatte. Er liebte seine Arbeit, war professionell und in jeder Hinsicht engagiert. Es ärgerte ihn sehr, dass er gerügt wurde, weil er ein einziges Meeting verpasst hatte, und obendrein handelte es sich um ein Meeting, das noch nicht angesetzt gewesen war, als er ausnahmsweise einen Vormittag freigenommen hatte. Zu allem Überfluss war auch noch seine Familie schuld daran. Wenn er den Termin wegen eines anderen Meetings verpasst hätte, hätte es ihn weniger gestört. Plötzlich war er wütend auf seine Mutter. {53 } Sie hatte eine Hüftoperation gehabt, und ausgerechnet am Morgen des besagten Meetings hatte Lou sie aus dem Krankenhaus abgeholt. Er war auch sauer auf seine Frau, denn sie hatte ihn dazu überredet. Oder eher gezwungen, indem sie auf seinen Vorschlag, seine Mutter von einem Taxi nach Hause bringen zu lassen, mit einem Wutanfall reagiert hatte. Er war sauer auf seine Schwester Marcia und auf seinen großen Bruder Quentin, die nicht für ihn eingesprungen waren. Ausgerechnet dann, wenn er ein einziges Mal seiner Familie den Vorrang gab, musste er einen so hohen Preis dafür bezahlen. Vor lauter Wut sprang er auf, begann nervös herumzutigern, biss sich auf die Lippen und hätte am liebsten zum Telefon gegriffen, seine Eltern und Geschwister angerufen und einen nach dem anderen angeblafft: »Seht ihr? Versteht ihr jetzt endlich, warum ich nicht ständig für euch da sein kann? Schaut euch doch an, was ihr angerichtet habt!«
»Haben Sie Alfred denn nicht gesagt, dass ich meine Mutter vom Krankenhaus abholen musste?«, fragte er Alison ganz leise. Diese Frage war ihm äußerst unangenehm, denn er wollte nicht selbst die Art von Entschuldigung vorbringen, die er bei seinen Kollegen zutiefst verachtete. Er hasste die Ausreden, er hasste es, wenn sich jemand in der Firma über persönliche Dinge ausbreitete. Für ihn war das ein Zeichen mangelnder Professionalität. Entweder machte man seinen Job, oder man ließ es bleiben.
»Na ja, es war meine erste Woche hier, und Mr Patterson stand neben ihm, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich hatte ja keine Ahnung, was Ihnen recht gewesen wäre … «
»Mr Patterson war auch dabei?«, hakte Lou nach, und die Augen quollen ihm vor Entsetzen fast aus dem Kopf.
Sie nickte mechanisch wie ein Wackeldackel.
»Aha.« Sein Herzschlag beruhigte sich wieder einigermaßen, und ihm dämmerte allmählich, was da vor sich ging. Sein lieber Freund Alfred war mal wieder dabei zu tricksen. Eigentlich hatte Lou immer gedacht, Alfred würde ihn mit seinen Machenschaften verschonen. Aber Alfred kam nicht aus ohne seine kleinen Intrigen, er schaffte es nicht, auch nur einen Tag mit offenen Karten zu spielen. Seine Lebenseinstellung und seine Ansichten waren geprägt von einem tiefen Misstrauen, und er war stets zuerst und vor allem darauf bedacht, aus einer Situation das Beste für sich selbst herauszuholen – ohne Rücksicht auf Verluste.
Lou ließ den Blick suchend über seinen Schreibtisch wandern. »Wo ist meine Post?«
»Im zwölften Stock. Der Praktikant war verwirrt, weil es keinen dreizehnten gibt.«
»Es gibt aber einen dreizehnten Stock, Himmel nochmal! Wir sind doch im dreizehnten Stock! Was ist heute denn bloß mit allen los?«
»Wir sind im vierzehnten Stock, und dass es keinen dreizehnten gibt, war ein schwerwiegender Planungsfehler.«
»Nein, es war kein
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