Zeit deines Lebens
Planungsfehler«, verteidigte er sich. »Einige der größten Gebäude der Welt haben keinen dreizehnten Stock.«
»Und kein Dach.«
»Wie bitte?«
»Das Kolosseum beispielsweise hat kein Dach.«
»Was?«, fauchte er, allmählich verwirrt. »Sagen Sie dem Praktikanten, er soll von jetzt an die Treppe nehmen und mitzählen. Dann bringt ihn eine fehlende Zahl nicht durcheinander. Warum kümmert sich der Praktikant überhaupt um die Post?«
»Harry sagt, wir haben zu wenig Leute.«
»Zu wenig Leute? Es muss doch nur eine einzige Person in den Aufzug steigen, um meine blöde Post hochzutransportieren. Wie kann es dafür zu wenig Leute geben?« Seine Stimme überschlug sich. »Ein Affe könnte diesen Job erledigen. Draußen auf der Straße gibt es Menschen, die ihr Leben geben würden für einen Job bei einer Firma, die … «
»Bei einer Firma, die was?«, fragte Alison, aber sie sprach nur noch mit Lous Hinterkopf, denn Lou hatte sich abgewandt und starrte durch die deckenhohen Fenster auf die Straße hinunter. In der Scheibe spiegelte sich sein Gesicht, und Alison konnte deutlich sehen, dass es einen sehr seltsamen Ausdruck angenommen hatte.
Sie entfernte sich langsam, und zum ersten Mal in den letzten Wochen war sie froh, dass ihre Affäre, die sich bisher auf ein bisschen Geknutsche im Dunkeln beschränkt hatte, keine Fortschritte machte. Denn vielleicht hatte sie ihren Chef falsch eingeschätzt, vielleicht stimmte etwas nicht mit ihm. Sie war neu in der Firma und noch nicht mit allem vertraut. Von Lou wusste sie eigentlich nur, dass er sie an das weiße Kaninchen aus
Alice im Wunderland
erinnerte, das immer zu spät dran ist, seine Termine aber irgendwie trotzdem schafft – wenn auch immer in letzter Sekunde. Er war nett zu allen, die mit ihm zu tun hatten, und erfolgreich in seinem Job. Außerdem sah er auch noch gut aus, war charmant und fuhr einen Porsche – und darum ging es ja wohl. Klar, als sie neulich mit seiner Frau telefoniert hatte, hatte Alison schon ein paar Gewissensbisse bekommen. Aber die legten sich rasch wieder, als sie merkte, wie naiv Lous Frau mit den Seitensprüngen ihres Mannes umging. Außerdem hatte doch jeder seine Schwachstellen, und man {56 } konnte es einem Mann wirklich nicht übelnehmen, wenn er ein Faible für Alison hatte.
»Was für Schuhe trägt Alfred?«, rief Lou, gerade als sie die Tür hinter sich zumachen wollte.
Sie kam zurück ins Zimmer. »Welcher Alfred?«
»Berkeley.«
»Das weiß ich nicht.« Sie wurde wieder rot. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Für ein Weihnachtsgeschenk.«
»Schuhe? Sie wollen Alfred
Schuhe
schenken? Aber ich hab doch bei Brown Thomas schon für alle den Geschenckorb bestellt, wie Sie’s gesagt haben.«
»Finden Sie es einfach raus. Aber möglichst unauffällig. Fragen Sie ihn mal ganz nebenbei. Es soll ja eine Überraschung werden.«
Sie kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Klar.«
»Oh, und diese Neue in der Buchhaltung. Wie heißt sie gleich … Sandra? Sarah?«
»Deirdre.«
»Ihre Schuhe könnten Sie auch mal checken. Und sagen Sie mir Bescheid, ob sie rote Sohlen haben.«
»Die haben keine roten Sohlen, das kann ich Ihnen gleich sagen. Deirdre trägt schwarze Stiefeletten, von Top Shop, Wildleder mit Wasserflecken. Letztes Jahr hatte ich die auch. Da waren sie total modern.«
Damit verschwand sie endgültig.
Seufzend ließ Lou sich auf seinen übergroßen Ledersessel sinken und drückte mit den Fingern auf die Nasenwurzel, in der Hoffnung, damit seine drohende Migräne abwenden zu können. Vielleicht hatte er sich auch irgendwas eingefangen. Heute Morgen hatte er schon kostbare Zeit verschwendet, was völlig untypisch für ihn war, und {57 } fünfzehn Minuten mit einem Obdachlosen geplaudert. Er hatte dem Drang einfach nicht widerstehen können, stehen zu bleiben und dem jungen Mann einen Kaffee anzubieten.
Unfähig, sich auf seinen Terminplan zu konzentrieren, wandte er sich wieder dem Fenster zu. Üppiger Weihnachtsschmuck zierte Straßen und Brücken, riesige Mistelzweige und Glocken, die mit Hilfe des magischen Neonlichts von einer Seite auf die andere zu schwingen schienen. Die Liffey, die recht viel Wasser führte, rauschte unter seinem Fenster vorbei in Richtung Dublin Bay. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen, die mit der Strömung zur Arbeit eilten. Sie hasteten an den Kupferfiguren der Auswanderer vorbei, die, abgemagert und in Lumpen gehüllt, während der großen Hungersnot eben diese Kais
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