Zeit der Geheimnisse
das:
Oh, the rising of the sun,
And the running of the deer,
The playing of the merry organ,
Sweet singing in the choir.
Als wir hinausgehen, ist es dunkel, und lauter winzige Schneeflocken fallen vom Himmel, wie in einem Bilderbuch kommt es mir vor. So schön ist es, dass ich am liebsten weinen möchte.
Alle rufen einander »Fröhliche Weihnachten!« zu, als sie zu ihren Autos gehen, und ich halte Grandpa an der Hand, damit er nicht ausrutscht auf dem Glatteis, und ich wünschte, es wäre immer Weihnachten.
36 - Eis
Aber als wir nach Hause kommen, fällt mir der Grüne Mann in der Scheune wieder ein, und nachdem ich einmal an ihn gedacht habe, bekomme ich ihn nicht mehr aus dem Kopf. Ich schaue aus dem Fenster, sehe den Schnee fallen und denke an das halb eingefallene Scheunendach – es muss doch hineinschneien, direkt auf die Stelle, wo er liegt.
In einer Nacht wie dieser könnte man erfrieren. Sogar ein Gott wäre da nicht sicher.
Dad sitzt unten in der Küche und trinkt mit Grandma Tee. Ich gehe zur Tür und will schon fast hineingehen, aber dann halte ich inne. Ich glaube nicht, dass sie an einem Abend wie diesem aus dem Haus gehen, nicht für einen Mann, von dem sie gar nicht glauben, dass es ihn gibt.
Ich gehe wieder nach oben, ins Wohnzimmer. Hannah sitzt auf dem Sofa, sieht Nachbarn und hat die Hand in einer Blechdose mit Weihnachtsmuster. In der Dose sind Schokopralinen.
»Hannah.«
»Was?« Und als ich nichts sage: »Was?«
»Der Mann. In der Scheune.«
»O Goooott!« Hannah lässt sich zurückfallen und macht die Augen zu. »Was ist mit ihm?«, sagt sie theatralisch und wirft den Kopf in den Nacken.
»Es schneit.«
»Vielleicht können die Feen ihm eine Decke stricken.«
Ich rolle den Saum meines Pullovers auf, immer wieder.
»Bitte, Hannah.«
»Bitte was?«
»Komm mit. Nachsehen, ob alles in Ordnung ist.«
»Hör mal, Molly.« Hannah wechselt in ihre Erwachsenenstimme. »Ausgedachte Leute können nicht frieren.«
Sie sieht wieder auf den Fernseher.
»Er ist nicht ausgedacht!« Sie rührt sich nicht. »Er könnte sterben.«
Sie stellt den Ton lauter. Ich schnappe mir die Fernbedienung, und sie quiekt auf.
»Molly! Jetzt hör schon auf damit!«
»Du hast doch bloß Schiss«, sage ich. »Nämlich wenn du mitkommst und siehst, dass es ihn wirklich gibt, dann heißt das, dass du nicht recht hattest, davor hast du Schiss, und außerdem traust du dich nicht alleine raus im Dunkeln, und du hast Angst, einen Toten zu sehen, denn das ist er jetzt bestimmt, und – «
»Du bist schon ziemlich seltsam«, unterbricht mich Hannah. »Das muss dir mal jemand sagen.« Mit einem tiefen Theaterseufzer steht sie auf. »Aber wenn er nicht in seinem Haus ist, dann suchen wir nicht nach ihm, okay?«
»Okay.«
Ich gehe hinter ihr her nach unten. Sie reißt die Küchentür auf.
»Molly und ich wollen ein bisschen im Schnee spielen«, sagt sie. »Wo ist die Taschenlampe?«
»Oh – «, sagt Dad. »Also – « Man sieht ihm an, dass er nicht will, dass wir im Dunkeln rausgehen, aber er will auch nicht verhindern, dass wir zusammen spielen. »Es – « Er bricht ab. »Aber geht nicht weit, ja?«
»’türlich nicht«, sagt Hannah. Sie wirft ihm ihren großartigsten verächtlichen Blick zu.
Es ist sehr kalt. Ich stecke die Hände in die Taschen und dränge mich dichter an Hannah.
»Hier lang?«, fragt sie. Sie knipst die Taschenlampe an, die ein verschwommenes Licht auf den nächsten Meter Straße wirft.
»Ja.«
»Dann komm.«
Es schneit immer noch. Inzwischen bleiben die Flocken am Boden liegen. Ich stelle mir vor, wie der Schnee auf meinem Grünen Mann liegen bleibt. Ich zittere.
Die Nacht fühlt sich merkwürdig an. Es raschelt in den Bäumen, wie flüsternde Stimmen hört es sich an. Ich rücke noch ein bisschen näher an Hannah heran und stoße mit ihr zusammen.
»Au!«
»Tut mir leid.«
»Wo müssen wir von der Straße runter?«
»Da ist ein Tor in der Hecke.«
»Wo?«
»Irgendwo hier – da!«
Ich greife nach Hannahs Hand und schwenke die Taschenlampe. Hannah stößt einen leisen verärgerten Ton aus und stapft los in Richtung Tor. Ich renne ihr
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