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Zeit der Geheimnisse

Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Nicholls
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gehe weiter durch die Tür, und damit ist die Gelegenheit vorüber. Ich bleibe stehen, lasse den Stein in den Schlamm fallen, und dann renne ich plötzlich los, ein kleines rennendes Mädchen unter dem schwarzen gewölbten Himmel, über die vertrauten Felder und nach Hause.
     

32 - Loki
    Jetzt kommt etwas über Götter: Du denkst vielleicht, alle Götter sind nett. Gut, der Gott des Weins trinkt vielleicht mal ein bisschen viel, und der Gott der Mathematik ist ziemlich langweilig, aber so richtig böse sind sie eigentlich nicht. Der Gott der Mathematik muss nun mal die ganze Zeit über das große Einmaleins reden. Aber man braucht eben alle möglichen Götter, selbst einen für Bruchrechnung oder für Regen oder Unterwäsche oder was auch immer, denn wen sollte man sonst bei Problemen in Mathe um Hilfe bitten? Oder wenn man keine saubere Unterwäsche mehr hat.
    Aber egal. Das glaubst du vielleicht, aber es stimmt nicht. Es gibt nämlich Götter, die einfach böse sind. Loki zum Beispiel, dieser Wikinger-Gott, der schreckliche Dinge getan hat, ohne jeden Grund. Zum Beispiel hat er nur zum Spaß andere Götter umgebracht und sich dann auch noch geweigert zu weinen, sodass sie keine Chance hatten, wiedergeboren zu werden. So böse war er, dass die anderen Götter ihn in eine unterirdische Höhle sperrten und eine Giftschlange über seinem Kopf anbrachten, sodass seither den ganzen Tag und die ganze Nacht lang Gift auf ihn runtertropft und seine Frau mit einer Schale neben ihm stehen und das Gift auffangen muss. Wenn die Schale voll ist, gießt sie sie aus, und währenddessen tropft das Schlangengift auf Loki. Dann schüttelt er sich so heftig, dass die ganze Erde sich mitschüttelt. Das sind dann die Erdbeben.
    Jedenfalls dachten das die Wikinger.
    Daran sieht man, dass nicht alle Götter nett sind. Manche Götter bringen andere Götter um und sorgen dafür, dass sie nie wiedergeboren werden. Nur so zum Spaß.
     

33 - Schlafen und Wachen
    Die ganze Nacht liege ich halb schlafend, halb wach im Bett. Es ist eine dieser Nächte, nach denen man morgens denkt, man hätte überhaupt nicht geschlafen, aber das kann eigentlich nicht sein, denn irgendwie ist die Nacht dann ja doch vergangen.
    Der Gott der Jagd hämmert an unsere Tür.
    »Noch nicht!«, rufe ich. »Noch nicht!«
    Aber er sagt »Jetzt!« und schlägt die Tür ein, und der Wind wirbelt herein und packt alles – die Zeitschriften im Laden flattern hoch, die Konservendosen fallen von den Regalen – und ich verstecke mich hinter der Tür, während er auf seinen Füßen mit den Hufen dasteht und dem Spektakel zusieht. Und meine Mutter ist da, zurück aus dem Grab, ein über alles geliebtes Skelett in Jeans und mit langen mattblonden Haaren.
    Ich schreie und schreie, doch auf einmal ist Grandpa da, also muss ich geträumt haben, und er macht »Sch-sch«, sagt: »Alles ist gut, ich bin ja bei dir.« Und ich fühle seine Arme um mich und weine und sage: »Er kommt! Er kommt!«
    Aber Grandpa hält mich und wiegt mich ganz sanft, viel sanfter als Grandma, und macht immer weiter Sch-sch. Ich überlege, ob ich ihm vom Stechpalmenkönig erzählen soll, ob er den Grünen Mann vielleicht retten könnte oder ob ich selbst, wenn ich jetzt in die Nacht hinausgehe, noch vor dem Stechpalmenkönig bei ihm sein und ihn irgendwie retten kann. Aber es ist tiefe, dunkle Nacht, der Wind heult um die Fensterscheiben, legt sich kurz und heult aufs Neue, und Grandpa wiegt mich und macht »Sch-sch«, so wie der Mann an der Straße, und aus dem Kopf wächst ihm ein Geweih, und Blätter kommen aus Ohren und Nase, und er ragt hoch auf neben mir, wie die Eiche in der Scheune, und schwankt im Wind, und dann fallen mir die Augen zu, und bevor ich noch irgendwas machen kann, schlafe ich ein.
     

34 - Angst
    Ich weiß, ich sollte wieder zur Scheune gehen, aber ich tu’s nicht.
    Stattdessen gehe ich mit Grandma zum Weihnachtsgottesdienst der Seemannsmission, weil wir da immer hingehen, zum Gedenken an meinen Urgroßvater, der in der Marine war. Außerdem sehe ich meinen Cousin Tom als hässliche Schwester in einem Schultheaterstück. Ich helfe Grandpa, die Weihnachtskarten aufzuhängen, damit alles fertig ist, wenn Dad über Weihnachten kommt.
    Ich weiß, ich sollte wieder hin, aber ich tu’s nicht.
     

35 - Das Jahr stirbt in der Nacht
    Die letzte Schulwoche hat begonnen, und wir arbeiten kaum noch. Stattdessen singen wir Weihnachtslieder (Hannah und Josh immer die unanständigen

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