Zeit der Geheimnisse
»Kannst du das auch, Molly Brooke?«
»Nein«, sage ich. »Nein, das kann ich nicht.« Ich kaue auf meiner Unterlippe. »Aber du weißt schon, dass nicht jeder dein Freund ist, oder? Du erinnerst dich doch noch an den Stechpalmenkönig, oder?
»Natürlich«, sagt er leichthin. Mit einem Satz ist er vom Baum und landet auf den Händen. »Sieh mal!«, sagt er im Halbstand. »Kannst du das?«
»Ja«, sage ich. »Gut sogar. Aber du musst dich doch noch an den Stechpalmenkönig erinnern. Er wollte dich umbringen! Und er ist immer noch hinter dir her! Du musst vorsichtig sein – «
»Vorsichtig, vorsichtig – wer hat denn schon Angst vor dem Stechpalmenkönig? Auf mich wartet jede Menge Arbeit!«
Er läuft auf den Händen auf mich zu, dann stellt er sich auf die Füße. Er hockt sich ins Gras, berührt es mit den Fingerspitzen. Kleine grüne Triebe drängen durch die Erde nach oben. Blüten erscheinen, zarte weiße Schneeglöckchen.
»Und das, kannst du da auch?«, fragt er.
Ich antworte nicht. Ich sehe mir seine Hose an. Sie besteht aus braunen, ineinander verwobenen Pflanzenteilen. Man kann durch sie hindurch seine Beine sehen. Sie sind glatt und braun und stark, aber schräg darüber verlaufen tiefe weiße Narben alter Wunden.
Die Art Narben, die man hat, wenn man von einem Hund gebissen wurde.
Oder von einem Wolf.
Das letzte Stück Straße bis nach Hause renne ich. Unter den Hecken ragen lauter grüne Schösslinge aus dem Boden, wo bald Osterglocken wachsen. Über mir ist ein kalter blauer Himmel. Als ich in die Küche stürme, ist Dad da. Seit Weihnachten hat er sich angewöhnt, ganz unerwartet vorbeizukommen. Er trinkt Tee und spielt mit Hannah Armdrücken.
»Achtung – fertig – los!«
Armdrücken ist etwas für Dad. Mum und ich sind grottenschlecht darin, aber Hannah kann es richtig gut. Sie kniet auf, ihrem Stuhl. Drückt Dads Arm und biegt ihn hoch. Ich weiß nicht, ob sie wirklich so stark ist oder ob Dad sie gewinnen lässt.
»He-he, Liebes, vorsichtig«, sagt er. Er blickt auf und sieht mich. »Hey, Moll, wo hast du denn gesteckt?«
»Oben im Wald«, sage ich. »Da war – « Ich breche ab.
»Wer war da?«, fragt Hannah. Ihr Gesicht ist rot, Haarsträhnchen kleben an ihrer Stirn. »Josh?«
Ich zögere. Dad lächelt. Er ist den ganzen Weg von Newcastle hergekommen, um uns zu sehen.
»Niemand«, sage ich. Ich setze mich Dad gegenüber an den Tisch. »Bloß Bäume und so. Kann ich auch mal?«
»Lasst uns was machen, was wir alle zusammen spielen können«, sagt Dad. »Wie wär’s mit Karten?«
52 - Emily auf dem Eis
Im Februar hat Emily Geburtstag. Matthew hat alle zu seiner Party eingeladen, aber Emily macht es anders. Sie fragt nur Alexander und mich.
»Und was ist mit uns?«, fragt Matthew.
Emily schüttelt den Kopf, und ihre Augen werden groß und rund.
»Sei nicht so unhöflich«, sagt Mrs. Angus. »Emily kann einladen, wen sie will. Es überrascht mich auch nicht, dass sie dich nicht dabeihaben will, nach dem, was du getan hast.«
Matthew und Josh haben Hannah gestern Kung Fu beibringen wollen. Aber Josh war diese Art Kampf ohne Waffen schnell leid und hat Matthew mit Emilys Stuhl eins über den Kopf gezogen. Als Emily gerade versuchte, sich zu setzen.
Ich sage nichts zu Emily, als sie mir ihre Einladung gibt, aber während wir Rechnen und Rechtschreiben üben, sitze ich die ganze Zeit da und lächle vor mich hin.
An ihrem Geburtstag fahren wir zur Eisbahn.
»Wart ihr schon mal Schlittschuh laufen?«, fragt uns Emilys Mum im Auto.
»Einmal«, sage ich.
Emily kann es schon. Sie fährt sofort auf die Eisfläche und dreht sich ein paarmal im Kreis. Wie eine Ballerina sieht sie aus.
»Dann kommt, ihr zwei«, sagt Emilys Mum zu Alexander und mir.
Alexander sieht aus, als hätte er große Angst. Er hält sich an der Bande fest und setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Da bin ja sogar ich besser. Wenigstens muss ich mich nicht festhalten. Zentimeterweise taste ich mich mit ausgestreckten Armen vorwärts. Emily fährt um mich herum.
»Drück dich seitlich mit den Füßen ab«, sagt sie. »Guck mal, so.«
Ich versuche es und komme ein Stück voran. Emily nimmt mich an die Hand.
»Und jetzt schneller«, sagt sie. Bestimmt falle ich gleich hin. Ganz sicher. Aber ich stoße mich mit den Füßen ab, und irgendwie geht es halbwegs.
Auf dem Eis ist Emily eine völlig andere als die, die ich aus der Schule kenne. Sie redet wie ein ganz normaler Mensch. Wir
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