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Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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gleich gesagt, dass sie nichts finden würden, aber sie hat trotzdem die Polizei gerufen. Es ist sehr spät. Alle schlafen, alle außer mir.
    Humphrey und ich liegen in Hannahs Bett. Hannah liegt in meinem Bett, in dem Dad eigentlich schlafen sollte, und Dad liegt auf einer Matratze auf dem Boden. Das war Grandmas Idee.
    »Das Kind braucht seinen Vater«, hat sie gesagt. »Das ist ja wohl klar.« Und dann hat sie Dads Koffer genommen und ihm vor die Füße geknallt. Dad hat nicht versucht zu widersprechen. Er hat bei mir gesessen, beide Arme um mich gelegt, das Kinn auf meinen Kopf gestützt. So fest hat er mich gehalten, dass sich mir die Kante von seiner Armbanduhr in die Seite bohrte.
    Alles ist auf den Kopf gestellt und völlig durcheinander.
    Dad schläft auf dem Boden vor meinem Bett. Er dreht mir den Rücken zu, aber ich kann ihn atmen hören.
    Es ist dunkel bis auf das Licht von der Nachttischlampe. Ein Kreis von sanftem, gelblichem Licht, lange graugelbe Schatten an der Wand, und nichts als Schwärze draußen vor dem Fenster.
    Der Sturm tobt weiter, und es schneit auch immer noch. Außerdem fällt Regen, glaube ich, falls das überhaupt geht, Schnee und Regen gleichzeitig.
    Es ist, als wären wir mitten in einem Schneesturm.
    Es ist, als wäre das Ende der Welt gekommen.
    Ich kann nicht schlafen. Ich kann nicht aufhören nachzudenken.
    Was, wenn er doch nicht Miss Shelleys Gott war?
    Was, wenn er ein ganz normaler Mann war?
    Hannah hat gesagt, ich hätte etwas tun müssen. Irgendetwas, um ihn zu retten. Wenn ich schon älter wäre – wenn ich ein besserer Mensch wäre – wenn ich Mum wäre oder Dad oder Hannah oder Grandpa –
    Wenn ich einer von ihnen wäre, dann hätte ich etwas getan.
    Wenn ich jemand anders gewesen wäre, egal wer, nur nicht ich, dann hätte ich ihn gerettet.
     
    Er hatte niemanden sonst.
    Er hatte mich, und ich habe nichts getan.

 
     
    Umgekrempelt
     
     
    Ich liege auf dem Rücken und starre an die Decke.
    Vom Fenster her höre ich Geräusche. Schnee trifft auf die Scheibe, nass und schwer.
    »Mum«, flüstere ich, aber sie ist nicht da. Ich weiß das ja, aber wenn ich die Augen zumache, kann ich mir fast vorstellen, dass sie ganz in der Nähe ist – im Zimmer nebenan vielleicht oder neben Dad auf dem Fußboden. Heute Nacht ist alles so seltsam. Wenn ich genau die richtigen Worte sage oder genau das Richtige tue, im genau richtigen Moment, vielleicht kommt sie dann zurück.
    Ich klettere aus dem Bett und hänge mir die schreckliche altmodische Bettdecke um. Die Stufen knarren, als ich mich nach unten schleiche. Ich taste mich an den Wänden entlang, damit ich nicht falle.
    Die Bodenfliesen in der Küche sind kalt, selbst durch meine Socken hindurch spüre ich das. Ich gehe zur Hintertür und schaue durch das Fenster nach draußen. Aber außer tiefschwarzer Nacht und wirbelnden Schneeflocken sehe ich gar nichts.
    »Moll?«
    Es ist Hannah. Ihr Gesicht sieht rot und weiß aus in der Dunkelheit.
    »Was machst du?«
    Sie kommt zu mir herüber.
    »Ich gucke.«
    So dunkel ist der Garten. Die Bäume biegen sich im Wind, ich höre, wie sie knarren.
    Heute ist die längste Nacht des Jahres. Die Mitte des Winters, ganz genau.
    »Moll«, sagt Hannah. »Es ist kalt. Komm wieder nach oben.«
    Aber irgendetwas ist wirklich anders an dieser Nacht. Der Grüne Mann ist nicht mehr da, und das ändert alles.
    »Komm«, sagt Hannah, »gehen wir.«
    Ich bewege mich nicht.
    »Was war das?« Hannahs Stimme klingt dünn und erschrocken. »Molly!«
    Ich höre es auch.
    Irgendetwas ist da.
    Ein neues Geräusch, nicht der Schnee, nicht der Wind, irgendetwas anderes, eine Art Wispern. Und auch ein Licht – aber nicht das einer Taschenlampe, matter. Was ist es? Ist es –
    »Moll«, sagt Hannah. »Da kommt irgendwas!« Sie zieht an meinem Arm, aber ich mache mich los.
    Und sehe sie.
    Sie steht im Schnee, ganz deutlich. Sie sieht nicht aus wie ein Geist. Sie sieht absolut lebendig aus. So lebendig, dass ich überlege, ob wir die Tür aufmachen und sie hereinlassen sollen.
    Sie steht da und lächelt uns an, ganz wie immer, lächelt uns einfach durch das Fenster an.
    Dann ist sie weg.

 
     
    Stille
     
     
    Die Welt da draußen ist ganz still. Wir hier drinnen liegen eng aneinandergekuschelt in meinem Bett, Arm in Arm, die kalten Zehen an die kalten Beine gedrückt, begraben unter einem Haufen aus sämtlichen Bett- und Wolldecken, die wir finden konnten.
    »Hast du sie gesehen?«, fragt Hannah noch

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