Zeit der Geheimnisse
schimmert er zwischen eilig dahinziehenden dunklen Wolken. Die Straße ist jetzt schmaler, die Bäume an den steilen Böschungen rücken näher heran. Ächzend strecken sie lange schwarze Finger aus, die tief über mir hängen.
»Ich habe keine Angst«, sage ich laut.
Denn jetzt höre ich, wie etwas sich nähert. Jemand. Schritte. Schritte, die in meine Richtung näher kommen. Mein Herz macht einen Satz. Wer sollte denn in einer so wilden Nacht wie dieser draußen sein? Allein, ohne Taschenlampe? Es ist der Teufel – ich weiß es. Ich mache kehrt und stolpere die Böschung hinauf, rutsche aus, falle fast in den Schlamm. Ich werd’s nicht schaffen. Ich werde noch auf der Straße sein, wenn er kommt. Ich keuche heftig, ich glaube, fast weine ich schon. Diese eiligen Schritte haben etwas Gruseliges – ihr dunkler Klang so einsam in einer schwarzen Nacht –, dass mir das Herz stockt. Aber dann bin ich doch oben, fast in der Hecke. Ich klammere mich an einen Ast der Weißdornhecke, die Dornen bohren sich in meinen Pullover und meine Finger. Ich halte die Luft an.
Und da ist er. Eine dunkle, gebeugte, rennende Gestalt. Es ist ein Mann, nicht groß, aber kräftig. So nah ist er, dass ich seinen keuchenden Atem höre.
Dann ist er vorüber, rennt weiter die Straße entlang in Richtung Dorf. Doch jetzt sind da andere Geräusche – ein Jagdhorn, noch eins und noch eins. Sie kommen näher. Pferde. Hunde, die bellen. Die anschlagen. Das machen Hunde nämlich auf der Jagd, wenn sie Beute wittern.
Der rennende Mann hat sie gehört. Er wendet den Kopf nach hinten. Sein Gesicht ist weiß in der Dunkelheit und nass vomRegen. Er hat keine Schuhe an und auch kein Hemd. Ich sehe, wie seine Brust sich hebt und senkt. Ich kann spüren, welche Angst er hat. Wer ist er? Wer jagt hinter ihm her?
Und dann sind die Hunde auch schon da.
Sie kommen um die Ecke geschossen und stürzen sich auf ihn. Es sind große Hunde, mehr Wölfe als Hunde. Er fällt, hebt die Arme schützend vors Gesicht. Und jetzt sind auch die Jäger da, schwarze Gestalten auf großen Pferden. Der Anführer der Jäger bleibt stehen und hebt den Kopf, und ich muss die Lippen fest zusammenpressen, um nicht zu schreien. Hörner wachsen ihm aus den Haaren, ein richtiges Geweih, das zu beiden Seiten aus seinem Kopf ragt. Ich drücke mich ganz fest in die Weißdornhecke, bis sich Äste in meinen Rücken bohren und Dornen an meinem Pullover reißen. Seht mich nicht! Seht mich nicht! Seht mich nicht!
Der große Anführer der Jäger sitzt hoch aufgerichtet auf seinem großen Pferd. Er führt ein schwarzes Jagdhorn an seine Lippen, stößt hinein und bläst einen langen klaren Ton.
Ich kneife die Augen ganz fest zu.
Und …
… sie sind weg.
Ich bewege mich nicht. Ich halte die Augen geschlossen. Riechen kann ich die Pferde und den Jäger noch immer, aber die Geräusche sind weg. Jetzt höre ich nichts als mein Herz und meinen schnellen, schniefenden Atem – ein-und-aus, ein-und-aus. Und den Regen. Sie müssen noch da sein, müssen, müssen –
Da – ein Geräusch. Ein ganz leises. Ein Rucken, kollernde Steine. Ich mache die Augen auf. Die Straße ist leer. Die Pferde –der Mann – die Hunde – sie sind alle weg. Aber irgendetwas ist immer noch da, schleppt sich langsam die Straße entlang.
Weißdornhecken sind nicht dazu gemacht, dass man sich an ihnen festhält. Ihre Äste sind nicht kräftig genug, und die Dornen stechen. Eine kleine Bewegung, und ich gleite aus, rutsche die Böschung hinunter, meine Beine, mein Rücken sind voller Lehm. Ich suche Halt und falle nach vorn. Falle auf etwas Warmes – auf jemanden Warmes.
Ich schreie. Ich schreie und schreie, und Hände fassen nach mir, halten mich an den Schultern, warme, lebendige Hände.
»Ruhig, ganz ruhig. Sch-sch-sch.« Die Stimme klingt tief und kräftig vor dem rauschenden Regen. Erschrocken weiche ich zurück, und die Hände lassen los. »Sch-sch. Keiner tut dir was. Sch-sch.«
Es ist nicht der Jäger. Es ist der andere. Der Mann, hinter dem sie her waren.
Plötzlich muss ich weinen, ich schluchze abgehackt, schaudere. Der Gejagte lehnt sich zurück und beobachtet mich. Trotz der Dunkelheit sehe ich, dass er jung ist, dass sein Gesicht nass ist von Schweiß und Regen, dass seine Haare sich locken.
»Na siehst du«, sagt er mit seiner tiefen Stimme. »Niemand ist verletzt. Niemand tut dir etwas.«
»Aber du
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