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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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funktioniert noch ausgezeichnet. Ich wette, Sie können sich noch an alles erinnern, was Sie in Ihrem Leben gemacht haben. Ich wette, Sie können sich sogar an ihre Namen erinnern.«
    »Wessen Namen?«
    »O-75«, zwitscherte die Spielleiterin. »Sagt jemand Bingo?«
    »Sie haben sich für verdammt schlau gehalten, als Sie den Cops erzählt haben, Sie hätten die Leiche Ihrer Frau gerade erst abgeschnitten. Aber Sie hatten das schon Stunden vorher getan, lange vor Ihrem Anruf bei der Polizei.«
    Eine Ader pochte an der Schläfe des alten Mannes. »Das ist lächerlich.«
    »Ach ja? Schon mal was von Forensik gehört, Spencer? Wissen Sie, wie viel uns ein toter Körper heutzutage erzählen kann? Zum Beispiel wann und wie ein Mensch getötet wurde und wer so blöd war, Spuren zu hinterlassen.«
    Spencer versuchte vergeblich, ihn wegzustoßen. »Lassen Sie mich in Frieden.«
    »Wen haben Sie zuerst getötet, Spencer? Das Baby oder Ihre Frau?«
    »Pfleger!«
    »Es hat Sie bestimmt verrückt gemacht zu merken, dass Sie so eine geheiratet hatten. Dass sogar Ihre Tochter so eine war.«
    Pike war weiß im Gesicht geworden. »Eine was?«
    »Eine Zigeunerin «, erwiderte Eli.
    Fast im selben Moment hievte Pike sich mit Mühe halb aus dem Rollstuhl. Seine Haut wurde dunkel, und er starrte Eli mit glasigen Augen an. »Sie … Sie …«, keuchte er und tastete nach den Armlehnen, griff aber daneben und kippte auf den Boden. Sofort kamen zwei Pfleger auf sie zugelaufen. Eli beugte sich tief zu Pike hinunter. »Was ist das für ein Gefühl, sich nicht wehren zu können?«, flüsterte er.

    Eli stand blinzelnd neben seinem Chef, der in die Kameras lächelte. Eli achtete jedoch kaum auf das eigentliche Ereignis – wie Chief Follensbee Az Thompson den Gerichtsbeschluss überreichte, der jedes Bauvorhaben auf dem Pike-Grundstück stoppte, bis sämtliche Abenaki-Gebeine umgebettet waren. Stattdessen suchte Eli die Gesichter der versammelten Menschen ab – Menschen, die er schon sein ganzes Leben lang kannte und die für ihn plötzlich ganz anders aussahen.
    Winks zum Beispiel hatte ein Alkoholproblem, und seine Frau hatte ihn verlassen. Doch heute strahlte er übers ganze Gesicht. Der alte Charlie Rope hatte sich diesen Augenblick auch nicht entgehen lassen wollen und hatte seine kleine Enkelin mitgebracht. Sie saß auf seinen Schultern, und Eli hörte den alten Mann zu ihr sagen: »Pass genau auf. An das hier müssen wir uns immer erinnern.«
    Sogar der stoische Az Thompson, der inoffizielle Abenaki-Sprecher, war sichtlich bewegt. Das hier war ein Sieg, und davon hatte es nur wenige gegeben. Jedes Mal, wenn die Abenaki Land kaufen oder das Recht zum Fischen erwerben wollten, waren sie daran gescheitert, dass sie kein vom Staat anerkannter Stamm waren und daher keine nennenswerten Rechte besaßen. Die Indianerbehörde schrieb vor, dass eine Gruppe von Ureinwohnern nur dann als Stamm gelten könne, wenn sie eine jahrhundertealte Kulturgeschichte nachweisen konnte.
    Bei den Abenaki klaffte seit den Dreißigerjahren ein Loch.
    Eli hatte immer den Grund darin vermutet, dass es den Abenaki an Struktur oder Elan oder beidem fehlte. Doch jetzt fragte er sich, ob sie sich nicht selbst in eine verhängnisvolle Zwickmühle gebracht hatten. Wie Shelby am Abend zuvor erklärt hatte, waren die Abenaki, um nicht ins Visier der Eugeniker zu geraten, Mischehen eingegangen, hatten die Namen von Weißen angenommen und in typisch weißen Berufen gearbeitet. Einige hatten Vermont verlassen und sich anderen Stämmen angeschlossen. Sie hatten ihre eigenen Traditionen hinter verschlossenen Türen versteckt, um sie nicht ganz zu verlieren. Und jetzt wurden sie dafür bestraft.
    Eli sah, wie einige Abenaki zu der großen Trommel gingen, die sie mitgebracht hatten. Ihre Stimmen, tief und eindringlich, verschmolzen zu einer erstaunlichen Melodie. Indiandergesänge folgten keinem vorgegebenen Verlauf. Sie waren eher wie Flüsse, die sich selbst ihren Weg suchten. Eli konnte sich noch erinnern, wie diese Musik abends ins Zelt drang und ihn in den Schlaf trug, wenn er als Kind den Sommer bei der Familie seiner Mutter am Ufer des Sees verbracht hatte.
    Dieser Gesang war ihre Geschichte. Mündlich überliefert wie alle Abenaki-Erinnerungen. Eli fragte sich, wie viele von diesen Männern und Frauen sich wohl daran erinnern konnten, was in Comtosook unter der Regie von Spencer Pike geschehen war. Allein die Tatsache, dass so auffällig geschwiegen worden war, war

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