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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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sesshaft und geriet häufig mit dem Gesetz in Konflikt … und es waren so viele. Sie waren nicht einmal unbedingt verwandt – die Eugeniker nannten sie ›Familien‹, um so eine Nähe zu erzeugen, die nicht immer gegeben war. Jedenfalls, Ende der Zwanzigerjahre waren durch die Erhebung sechstausend Menschen registriert worden, die man in zweiundsechzig fragwürdige Abstammungslinien eingeteilt hatte. Diese Leute sollten sterilisiert werden.«
    »Wieso haben die Familien überhaupt mit denen geredet? Sie hätten sich doch denken können, was die im Schilde führten«, sagte Ross.
    »Wenn du bitterarm bist, in einem Zelt lebst und zehn Kinder hast, und eines Tages taucht eine elegante weiße Frau auf, die mit dir reden möchte, da lässt du sie vor lauter Überraschung rein. Und wenn sie Fotos von den Kindern sehen will, zeigst du sie ihr aus Stolz. Und wenn sie nach Verwandten fragt, erzählst du ihr ein paar Familiengeschichten. Und du hast keine Ahnung, dass deine Besucherin sich notiert, in welchen heruntergekommenen Verhältnissen du haust und wie dumm du bist, weil du Fehler machst beim Sprechen.«
    Eli hatte Ross und Shelby erzählt, was er von Frankie erfahren hatte – Ahnenforschung einer anderen Art. Shelbys Entdeckung war das fehlende Glied gewesen, der Grund, warum Gray Wolf und Cecelia Pikes Verwandtschaft möglicherweise zu Cecelias Tod geführt hatte. Es war naheliegend, dass Pike angesichts seiner eugenischen Überzeugungen extrem aufgebracht reagiert hatte. Aber wäre er zu einem Mord fähig gewesen?
    Eli sah sich eine der Stammbaumkarten an. Sie war schwer zu entziffern, aber leicht zu verstehen – von Generation zu Generation waren sämtliche Makel aufgeführt, die dieses Verwandtschaftsnetz für die Eugeniker interessant gemacht hatten. Ganz am Ende standen die Namen von Männern und Frauen, die Eli noch kannte und von denen die meisten ein über Gebühr schweres Leben gehabt hatten. »Wie viele Leute wurden sterilisiert?«, fragte Eli.
    Shelby schüttelte den Kopf. »Darüber konnte ich keine genauen Informationen finden. Bis 1951 wurden in Vermont 210 Sterilisationen registriert – die meisten in sogenannten Anstalten für Schwachsinnige oder Heilanstalten oder im Gefängnis. Dabei waren die Leute vor allem deshalb in diesen Anstalten, weil sie nicht im Sinne der Gesellschaft lebten: Ihre Ehen zum Beispiel waren nach Vermonter Recht ungültig … also konnte das Jugendamt die Kinder in eine Besserungsanstalt stecken, die Ehefrau wegen loser Moral in eine Nervenklinik und den Ehemann als Sexualtäter ins Gefängnis.«
    »Aber die Operationen waren freiwillig«, sagte Ross.
    »Theoretisch. Manchmal bedurfte es lediglich der Zustimmung zweier Ärzte.«
    Eli spürte einen pochenden Schmerz hinter seinem linken Auge. Er lebte schon so viele Jahre in dieser Stadt, aber noch nie hatte er von diesem Eugenik-Projekt gehört. In dem Haus, wo das Büro war, das die statistische Erhebung durchgeführt hatte, Church Street 138, war jetzt ein Laden, der Räucherstäbchen und Kerzen verkaufte.
    Er dachte an die alte Tula Patou, die unten am Fluss wohnte und sechzig Jahre verheiratet war, kinderlos. An manche seiner Onkel und Tanten, die keine Kinder bekommen hatten, obwohl sie gern welche gehabt hätten. Waren sie sterilisiert worden? Wussten sie es überhaupt?
    Bestimmt gab es noch Leute in Comtosook, die von der Erinnerung an das, was in den Dreißigerjahren geschehen war, verfolgt wurden. Leute, die damals nicht gewusst hatten, was sie davon halten sollten. Opfer, die aus Angst nicht darüber sprachen. Und Befürworter, die aus schlechtem Gewissen schwiegen.
    Diese Entdeckung war ein Brandsatz.
    Plötzlich fiel Eli wieder ein, wie er als kleiner Junge mit seiner Mutter bei der Schulanmeldung in der Schlange vor dem Sekretariat gestanden hatte. Seine Mutter hielt ihn an der Hand, wie alle anderen Mütter ihre Kinder, doch als sie fast an der Reihe waren, gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und sagte, sie würde draußen auf ihn warten. Er erinnerte sich an ihre rätselhafte Bemerkung, als er hinterher wieder zu ihr lief: »So wie du aussiehst, nehmen sie dich.«
    Die Abenaki hatten die Zeit nicht vergessen, als man sie fälschlicherweise Zigeuner nannte. Sie erinnerten sich nur allzu gut daran.
    Eli beugte sich über eine weitere Ahnentafel. »Was, wenn Pike es nicht gewusst hat? Was, wenn seine geliebte Frau … ein Baby zur Welt brachte, dessen Haut eine Spur zu dunkel war?«
    »Und wenn sie Zeit mit

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