Zeit der Gespenster
sich ein Glas Orangensaft einzugießen. Plötzlich fiel ihm ein, dass er Ethan ganz vergessen hatte. Es war kurz vor Mitternacht – und sein Neffe musste schon seit Stunden auf sein.
»Eth?«, rief er, aber im Haus blieb es still.
Als er zum Fenster hinausblickte, sah er, dass Shelbys Wagen nicht in der Einfahrt stand. Auch das war merkwürdig – sie hätte spätestens um neun nach Hause kommen müssen. Dann sah er das blinkende Lämpchen am Anrufbeantworter. Er drückte den Knopf. »Ross, ich bin’s, Shel. Ich bin auf eine unglaubliche Sache gestoßen. Sag Ethan, ich komm bald nach Hause, und sei bitte auch da … ich hab dir einiges zu erzählen.«
Sie war also nicht mit Ethan irgendwohin gefahren. Ross ging nach draußen, aber der Junge war weder mit seinem Skateboard in der Einfahrt, noch trieb er sich im Garten herum. Wieder im Haus, lief er nach oben und sah in Ethans Zimmer nach. Das Bett war gemacht, Ethans Pyjama lag verschlungen auf dem Boden. Wo steckte der Junge bloß?
Allmählich geriet Ross in Panik. Jeder Neunjährige konnte in Schwierigkeiten geraten, aber für Ethan barg die Welt ganz andere Gefahren. »Ethan, das ist nicht lustig«, rief er. »Mach, dass du herkommst.«
Doch noch während er rief, wusste er, dass Ethan ihn nicht hören konnte. Er holte seine Autoschlüssel und eilte nach unten. Wenn er Ethan fand, bevor Shelby nach Hause kam, dann würde sie nichts von seinem Verschwinden erfahren müssen.
Er war gerade in seinen Wagen gestiegen, als hinter ihm ein Pick-up hielt. Eli Rocherts Hund sprang heraus, als wäre er hier zu Hause, und dann stieg Ethan aus. Ross schaute von Ethan zu Eli, der die Arme verschränkte, aber kein Wort sagte. »Darf ich erfahren, wo du warst?«
Noch ehe Ethan antworten konnte, bog Shelby in die Einfahrt. Hinten in ihrem Wagen stand eine große Kiste. »Was ist denn hier los?«, fragte sie.
»Nichts«, sagten alle drei wie aus einem Munde.
»Was hat dann ein Polizeibeamter um Mitternacht vor meinem Haus zu suchen?«
Eli trat vor. »Ich, ähm, wollte Sie besuchen, weil ich wusste, dass Sie bestimmt noch auf sind. Mit Ethan. Aber als ich herkam, waren Sie’s doch nicht. Nicht hier, meine ich.«
Shelby reagierte unterkühlt. »Brauchen Sie wieder meine Hilfe bei Ihren Recherchen?«
»Nein, ich wollte fragen, ob ich Sie zum Essen einladen darf.« Das kam offenbar selbst für Eli überraschend.
Dass Eli Ethan nicht bei seiner Mutter anschwärzte, rang Ross Respekt ab.
Shelby wurde rot, blickte kurz weg und dann in Elis Augen. »Sehr gern«, sagte sie.
Ethan schnaubte.
Shelby räusperte sich, öffnete dann die Heckklappe ihres Wagens. »Tragt ihr das bitte für mich rein?«
»Was ist das denn?«, fragte Ross, als er den enorm schweren Karton hochhob.
Shelby wischte sich die staubigen Finger an der Hose ab. »Geschichte.«
»Es nannte sich Gesetz für menschliche Verbesserung durch freiwillige Sterilisation «, erklärte Shelby, »und es wurde am 31. März 1931 verabschiedet. Vermont war der vierundzwanzigste Staat von dreiunddreißig, die ein Sterilisationsgesetz hatten. Nach dem, was ich ausgraben konnte, gingen die genealogischen Untersuchungen von Familien, die man für eine Belastung der Steuerzahler hielt, auf das Konto von Henry Perkins … und Spencer Pike und Harry Beaumont waren seine Handlanger.«
Sie hatten einige von den Stammbaumkarten auf dem Küchenboden ausgebreitet und saßen im Schneidersitz drum herum. »Sie hielten Kriminalität und Degeneriertheit für erblich, so wie Augenfarbe oder Körpergröße. Und um aus Vermont einen Paradestaat zu machen, wollten sie für einen möglichst starken Genpool sorgen. Das hieß nach deren Logik, es musste verhindert werden, dass die Menschen, die die Erbmasse verwässerten, sich weiter fortpflanzten.«
»Wieso hat man ihnen den Quatsch überhaupt abgekauft?«
»Weil die Eugeniker der Dreißigerjahre angesehene Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Richter waren. Sie glaubten fest daran, dass das, was sie taten, auf lange Sicht für alle das Beste war.« Shelby holte Unterlagen der Jugendstrafanstalt von Vermont, der Waterbury-Klinik für Geisteskranke, des Zuchthauses hervor. »Zuerst nahmen sie sich Familien vor, von denen immer mal wieder jemand in eine Institution eingewiesen wurde. Die Chorea-Familie wurde wegen einer wiederholt auftretenden neurologischen Störung ausgewählt. Die bitterarme Piraten-Familie lebte auf Hausbooten und in Hütten an der Küste. Die Zigeuner-Familie war nicht
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