Zeit der Gespenster
helfen. Kein Versprechen hatte je einen Menschen gerettet; erst wenn es gehalten wurde, brachte es Erlösung.
Wie passend, so dachte er, dass es nach allem, was passiert war, noch immer darauf ankam, was geschrieben und was gesagt worden war. Er betrachtete die Kiste mit Akten und Stammbaumkarten, die am Flussufer stand. Es war nicht schwer gewesen, in den Keller der Stadtverwaltung einzudringen und die letzten Zeugnisse des Vermonter Eugenikprojektes herauszuholen, die Ross Wake mans Schwester wieder dorthin zurückgebracht hatte.
Az wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, die Wörter ihrer Macht zu berauben: Sie mussten getilgt werden. War ein Wort erst mal in die Welt entlassen worden, konnte man es nicht mehr zurückrufen, aber man konnte es daran hindern, dass es erneut ein offenes Ohr fand. Er nahm das mitgebrachte Isolierband und die erste Akte von Spencer Pike, drückte sich die Akte an die Brust und wickelte das Klebeband einmal um den Körper.
Während er Akten und Papiere und Stammbaumkarten an seinem dünnen Körper befestigte, dachte Az an seine Tochter: daran, wie ihre Augen aufleuchteten, wenn sie ihn kommen sah, an die Bewegung ihrer Hände auf ihrem schwangeren Leib, daran, dass sie ihn immer an eine Orchidee erinnert hatte.
Seine Gedanken wanderten noch weiter zurück, zu dem Augenblick, als er seine wunderschöne Lily zum ersten Mal gesehen hatte, an dem Tag, als er bei ihrem Vater auf den Feldern angefangen hatte. Irgendwann war er am Haus vorbeigekommen und hatte sie mit ihrem silber glänzenden Haar und der weißen Haut auf der Veranda Walzer tanzen sehen. Sie hatte dabei eine Melodie gesummt, die Arme um einen imaginären Partner geschlungen. Sie hatte nicht bemerkt, dass jemand sie beobachtete, und schon das hatte Az den Atem geraubt. Sie braucht einen Partner , hatte Az gedacht, und so hatte es angefangen.
Er fragte sich, ob Meredith schon mit Winks über das Land gesprochen hatte. Er fragte sich, ob sie wohl nach Comtosook zurückkehren würde, wie sie gesagt hatte. Manchmal, kurz vor dem Einschlafen, verwechselte er sie mit Lia. Sie sahen sich ähnlich, ja, aber das war nicht alles. Er konnte nicht für seine Tochter sprechen, aber er glaubte, Lia wäre stolz gewesen.
Als er sich die letzte Akte am Körper befestigt hatte, ging Az ins Wasser. Selbst im August war es so kalt, dass seine Knöchel rasch gefühllos wurden. Er spürte, wie die Akten sich vollsogen. Das Papier war ein Schwamm, der ihn auf den schlammigen Grund des Sees drückte.
Az atmete noch einmal tief ein, bevor sein Kopf unterging. Er ging über den Seeboden, wirbelte Schnecken und Steine und vergessene Schätze auf. Er ließ die Luft aus seiner Lunge sprudeln und legte sich auf den Rücken, beschwert durch das Gewicht der Geschichte an seinem Körper, und dort wartete er auf den Morgen.
»Es tut mir so leid«, sagte Eli mindestens zum soundsovielten Mal zu Shelby, als er die Tür zu seinem Haus öffnete, in dem ein einsamer Watson sie begrüßte.
»Du kannst doch nichts dafür.«
Eli war bis nach ein Uhr mit dem Autounfall beschäftigt gewesen. Jetzt bekamen sie nicht mal mehr bei McDonald’s etwas zu essen. Eli warf die Schlüssel in eine Schale auf dem Küchentisch, in der drei überreife Bananen lagen. »Die reinste Katastrophe«, murmelte er und öffnete den Kühlschrank. »Ich kann dir nicht mal was zubereiten. Außer du magst Brot mit Senf.« Er inspizierte die Packung. »Berichtigung: Penicillin mit Senf.«
Plötzlich umarmte Shelby ihn von hinten. »Eli«, sagte sie. »Ich hab gar keinen so großen Hunger.«
»Nein?« Er richtete sich auf und drehte sich zu ihr um.
Sie lockerte seine Krawatte. Dann schlüpfte sie aus ihren Pumps. »Nein«, sagte sie. »Aber heiß ist mir.«
Wem sagst du das , dachte Eli, und dann drehte sie sich um und hob ihr langes Haar im Nacken an. »Machst du mir den Reißverschluss auf?«
Zentimeter für Zentimeter zog er den kleinen Metallgriff nach unten, und mit jeder sich öffnenden Verzahnung wurde er nervöser. Shelbys Haut war so unglaublich weiß und glatt. Noch ein Stückchen tiefer, und der Verschluss ihres schwarzen BHs kam zum Vorschein.
Er trat irritiert zurück. »Vielleicht, äh, ziehst du dir besser was Bequemeres über«, schlug er vor.
»Ich hab aber gar nichts dabei.« Shelby griff nach hinten, zog den Reißverschluss ganz auf und ließ das Kleid zu Boden gleiten, sodass sie plötzlich wie eine Fata Morgana aus Fleisch und Blut und Spitzenunterwäsche
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