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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Geister gar nicht richtig tot, sondern leben irgendwo in der Vergangenheit, und …« Ross’ Stimme erstarb. »Entschuldigen Sie. Ich weiß … die meisten Leute halten das, was ich mache, für Spinnerei.«
    »Das kriege ich auch oft zu hören.« Lia lächelte zaghaft. »Und bitte entschuldigen Sie sich nicht. Ich bin noch nie einem Wissenschaftler begegnet, der nicht ins Schwärmen gerät, wenn es um seine Arbeit geht.«
    Ein Wissenschaftler . War Ross je so genannt worden? Er war geschmeichelt, erstaunt, fasziniert. Um seine Verunsicherung zu überspielen, griff er nach seinen Zigaretten und bot Lia eine an. Ihre Hand hob sich unsicher, dann verschwand sie rasch hinter ihrem Rücken. Aber es war Ross nicht entgangen, dass sie einen schmalen goldenen Ring am Finger trug.
    Wieder brach für ihn eine Welt zusammen.
    »Er wird’s nicht erfahren«, sagte Ross und sah ihr in die Augen.
    Lia starrte ihn an. Dann zog sie eine Zigarette aus der Packung und ließ sich von Ross Feuer geben. Sie rauchte, als wollte sie ein Geheimnis verschlucken – einen Schatz, der behütet werden wollte. Sie schloss die Augen, hob das Kinn, und die geschwungene Linie ihres Halses wurde sichtbar.
    In diesem Moment spielte es keine Rolle, dass sie die Frau eines anderen war, dass die wenigen Minuten, die Ross mit ihr hatte, nur gestohlen waren. Es mochte der Beginn eines schweren Fehlers sein, aber Ross brachte es nicht fertig, sie gleich wieder gehen zu lassen. »Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«, fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
    »Es verrät Sie schon niemand.«
    »Die ganze Stadt kommt in den Diner. Wenn er erfährt, dass ich mit Ihnen da war …«
    »Na und? Dann sagen Sie ihm die Wahrheit. Wir sind zwei Freunde, die sich über Geister unterhalten haben.«
    Falsche Antwort. Lia wurde sichtlich blass, und Ross sah wieder ihre Verletzlichkeit. »Ich habe keine Freunde«, sagte sie leise.
    Keine Freunde. Und du darfst nicht mal einen Kaffee trinken und musst dich mitten in der Nacht davonstehlen . Was mochte das für ein Tyrann sein, der Lia so vollkommen beherrschte?
    »Nur eine Tasse«, flehte Ross.
    »Na schön«, gab sie schließlich nach. » Eine Tasse.« Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und fixierte ihn dabei. »Sind wir uns schon mal begegnet?«
    »Neulich im Wald.«
    »Ich meine davor.«
    Ross schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte er, aber er hatte das Gefühl, sie schon immer gekannt zu haben. Aber vielleicht wünschte er sich das ja nur.
    Er wollte sie fragen, warum sie vor ihrem Mann Angst hatte. Er wollte sie fragen, was sie ausgerechnet jetzt zu dem Diner geführt hatte, wo er da war. Aber er fürchtete, wenn er auch nur irgendetwas sagte, würde sie einfach verschwinden, wie die Rauchfäden, die zwischen ihnen schwebten.
    »Glauben Sie wirklich, dass es dort einen Geist gibt?«, fragte Lia.
    »Auf dem Pike-Grundstück? Vielleicht. Falls es tatsächlich ein alter Indianerfriedhof ist.«
    »Ein Indianerfriedhof?« Die Idee schien sie zu verblüffen. »Das glaube ich nicht.«
    »Kennen Sie sich in der Gegend aus?«
    »Ich bin hier aufgewachsen.«
    »Und Sie haben nie irgendwas gehört, dass da früher mal eine Indianersiedlung gewesen sein könnte?«
    »Da hat Ihnen jemand einen Bären aufgebunden.«
    Ross überlegte. Die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen.
    »Aber dieser Indianer … das ist doch nicht Ihr erster Geist«, sagte Lia zögernd.
    »Doch, und auch nur, falls er sich mal zeigt.«
    »Nein, ich wollte sagen, das ist nicht der Geist, der Sie dazu gebracht hat, nach Geistern zu suchen.« Sie neigte den Kopf, und ihr Haar fiel nach vorne, verdeckte ihr Gesicht. »Meine Mutter ist am Tag meiner Geburt gestorben. Manchmal suche ich sie.«
    Plötzlich wurde ihm klar, dass der Grund für Lias Glaube an paranormale Phänomene nicht Aufgeschlossenheit war, sondern Verzweiflung – wie bei ihm. Dass er bei ihr denselben Schmerz erkannte wie bei sich selbst.
    Lia streckte den Arm aus, schob den Ärmel ihrer Strickjacke hoch und entblößte ein ganzes Netz von Narben. »Manchmal muss ich mich selbst schneiden«, gestand sie, »weil ich ganz sicher bin, dass ich nicht bluten werde.«
    Es war so lange her, dass irgendjemand ihn verstanden hatte. »Mein Geist«, sagte Ross mit belegter Stimme. »Ihr Name ist Aimee.«
    Und er erzählte, was er alles an Aimee geliebt hatte – ihr Lächeln zum Beispiel oder die rauhe Stelle an ihren Ellbogen. Er sprach von dem

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