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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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traumatischen Unfall und davon, was für ein Gefühl mit der Einsicht einherging, dass manche Fehler unauslöschlich sind. Er sprach, bis seine Kehle ganz heiser war und er seine ganze Trauer wie eine Gabe zu Lias Füßen ausgebreitet hatte.
    Als er fertig war, weinte sie. »Glauben Sie wirklich, dass man einen Menschen sehr lieben kann, sehr, sehr lieben kann, auch wenn man in verschiedenen Welten lebt?«
    Ross spürte, dass die Frage sich nicht nur auf seinen eigenen Schmerz bezog. »Wie kann ich denn nicht daran glauben?«
    Sie machte ein paar Schritte rückwärts. »Ich muss gehen.«
    Instinktiv griff Ross nach ihr – und ebenso rasch wich Lia zurück.
    »Lia, sagen Sie mir, was er Ihnen angetan hat.«
    »Er betet mich an«, flüsterte sie. »Er liebt eine Frau, die es eigentlich gar nicht gibt.«
    Damit hatte Ross nicht gerechnet. Konnte man einen anderen Menschen so sehr lieben, dass man ihn quälte, ohne es zu wollen?
    Lia berührte sacht seinen Ärmel, und die Tränen an ihren Fingerspitzen hinterließen einen kühlen Fleck. »Wenn Sie Aimee finden«, sagte sie leise, »sagen Sie ihr, wie glücklich sie sich schätzen kann.«
    Als Ross den Blick hob, entfernte sie sich bereits. In seinem Kopf überschlugen sich die Fragen: Was konnte sie nur getan haben, dass sie meinte, der Zuneigung ihres Mannes nicht würdig zu sein? Und falls Lia ihn liebte, warum brach es ihr dann das Herz?
    Ross hatte sie nicht bekümmern wollen. Er hatte ihr nur begreiflich machen wollen, dass sie nicht allein war. »Lia«, rief er und eilte ihr nach, doch sie blickte nur kurz über die Schulter und beschleunigte dann ihre Schritte.
    »He.« Die Kellnerin öffnete die Eingangstür des Diners. »Jetzt ist ein Tisch frei!«
    Ross folgte ihr hinein. Sie führte ihn an einen Tisch, der noch nicht abgeräumt war. Er setzte sich und gab ihr eine Zigarette, wie versprochen.
    Sie lachte, schob sie sich in den Ärmel und wischte den Tisch ab. »Ganz allein unterwegs?«
    Er sah zum Fenster hinaus. »Ich fürchte, ja.«
    Als die Kellnerin verschwand, um ihm Besteck und eine Tasse Kaffee zu holen, bemerkte Ross den Penny, der auf dem Tisch lag. Er war 1932 geprägt worden.

    Zu Hause überlegte Ross, was er über Lia wusste: Sie hatte einen ungemein schüchternen Eindruck auf ihn gemacht. Das Übernatürliche faszinierte sie, aber sie fürchtete sich vor ihrem eigenen Schatten. Freiheit gab es für sie nur in der Nacht. Sie war mit einem Mann verheiratet, der sie regelrecht gefangen hielt.
    Und, ja, sie war innerlich gebrochen. Sie verbarg es gut, doch Ross wusste aus eigener Erfahrung, dass man, auch wenn die Einzelteile wieder zusammengefügt wurden, nach einem solchen Sturz nie wieder derselbe Mensch war.
    Er ließ das Band, das er einige Nächte zuvor aufgenommen hatte, vorlaufen, spielte sein Gespräch mit Az Thompson erneut ab. Das Problem war, dass er sich stärker für Lia Beaumont interessierte als für die Frage, ob auf dem Grundstück ein Geist umging oder nicht.
    Auf dem Band war absolut nichts Verwertbares. Was sollte er Rod van Vleet sagen?
    Das Telefon klingelte, riss ihn aus seiner Grübelei. Er griff hastig nach dem Hörer, damit Shelby und Ethan nicht wach wurden. »Hallo?«
    Es meldete sich niemand, aber Ross hörte ein sanftes Rauschen. Er klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr. »Lia?«, murmelte er.
    Sie war es. Darauf hätte er alles verwettet. Sie konnte sich nicht mit ihm treffen, aber sie wusste, wo sie ihn finden konnte. Und das teilte sie ihm auf diese Weise mit.
    Ross legte nicht wieder auf. Er schlief mit dem Hörer am Ohr ein, sein erster richtiger Schlaf seit Tagen.

    Vor Tausenden von Jahren siedelten die Abenaki nicht nur vom Nordwesten Vermonts bis in den Südwesten, sondern auch im Westen von Massachusetts, in Teilen New Hampshires und sogar in Quebec. Sie nannten das Gebiet nd’akina , was so viel hieß wie »unser Land«. Der Name ihres Stammes, Abenaki , bedeutete »Volk der Morgendämmerung«. Sie selbst bezeichneten sich als alnôbak , Menschenwesen. Irgendwann betrug ihre Zahl vierzigtausend.
    Sie lebten vom Ackerbau, und ihre Dörfer lagen meist in den Feuchtgebieten der Flüsse. Durch Jagd und Fischerei ergänzten sie ihren Speiseplan. Während der längsten Zeit des Jahres lebten sie zerstreut in großen Familienverbänden, doch im Sommer kamen sie alle zusammen. Sie hatten kein allgemeines Oberhaupt. Wenn sie Krieg führten, verließen die Abenaki ihre Dörfer, teilten sich in kleinere

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