Zeit der Gespenster
unerlässlicher Bestandteil der Arbeit eines Geistersuchers war, musste er gähnen.
Ethan war, ehrlich gesagt, völlig ausgeflippt, als die Taschenlampe und die Kamera von allein ausgingen. Wie sich herausstellte, war bei der Kamera einfach das Band zu Ende gewesen, und bei der Taschenlampe waren die Batterien leer.
Jetzt blickte seine Mom stirnrunzelnd auf den Bildschirm. »Entgeht mir da was?«
»Noch nicht.« Ross sah Ethan an. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, es war mit dir im Raum.«
Ethan lief es kalt den Rücken herunter. »Ich … ich dachte, du bist nach draußen gegangen, weil du da was gesehen hattest.«
»Nein, da war jemand.« Plötzlich drückte Ross die Pausentaste an der Fernbedienung. »Seht ihr das?«
»Glühwürmchen?«, sagte Shelby.
»Wann hast du denn das letzte Mal so viele Glühwürmchen gesehen, dass es aussieht wie Schneegestöber?« Er ließ das Band ein Stück zurücklaufen und drehte die Lautstärke höher, sodass seine und Ethans Stimme zu hören waren. »An der Stelle gehe ich«, erläuterte Ross. Seine Schritte auf der Treppe verklangen. »Seht ihr? Die Lichter tauchen auf, nachdem ich weg bin.«
Dann wurde das Bild schwarz.
Ross richtete sich auf. »Ich denke, dass dieses Etwas ins Zimmer kam, als ich draußen war. Die Sternchen auf dem Band – das war Energie, die ihre Gestalt verändert. Und das würde auch erklären, warum die Taschenlampe ausgegangen ist. Geister brauchen Energie, um sich zu materialisieren und zu bewegen. Der hier hat die Batterien in der Taschenlampe dafür benutzt.«
Doch Ethan war allein im Zimmer gewesen, und er hatte nichts gesehen. Oder doch?
Eine Badewanne. Einen Fuß, der aus dem Schaum auftaucht .
Das Bild tauchte unvermittelt vor seinen Augen auf, verschwand aber wieder, bevor er es festhalten konnte. Ethan war inzwischen todmüde. Er hörte die Stimme seiner Mutter wie durch Wasser. »Und was erzählst du jetzt dem Baufritzen?«
Die Antwort seines Onkels bekam Ethan schon nicht mehr mit. Er träumte von einem Strand mit Sand, der so heiß war, dass er ihm unter den Füßen brannte.
»Kommen Sie zurecht?«
Shelby schob ihre Lesebrille höher und sah von dem Mikrofiche-Lesegerät zu dem pockennarbigen Mitarbeiter des Nachlassgerichtes hoch. »Ja, danke.« Zum Beweis zog sie den Leseschlitten heraus und wechselte geschickt die Vorlage, um die nächste Seite des Testaments zu studieren.
Ross hatte sie darum gebeten – und weil er sie so selten um Hilfe bat, hatte sie Ja gesagt. Sie sollte für ihn herausfinden, wie lange das Land schon im Besitz der Familie Pike war und ob es irgendwann von amerikanischen Ureinwohnern besiedelt gewesen war. Für Letzteres gab es keinerlei Hinweis, und sie stellte fest, dass das Grundstück erst seit den Dreißigerjahren Spencer Pike gehörte. Er hatte den Besitz allerdings nicht etwa durch Kauf erworben, sondern geerbt. Von seiner verstorbenen Frau.
Testament von Mrs. Spencer T. Pike aus Comtosook, Vermont.
Shelby runzelte die Stirn, als sie das Datum sah – 1931. Die Unterschrift war zart und krakelig: Mrs. Spencer T. Pike – als hätte es die Frau vor ihrer Heirat gar nicht gegeben. Die Juristensprache war kompliziert, aber der Inhalt lief ganz klar auf eines hinaus: Mrs. Spencer T. Pike hatte alles ihrem Ehemann hinterlassen. Fast.
Ich hinterlasse meinem Ehemann Spencer Pike meine gesamte persönliche Habe, darunter alle Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände meines Hauses, meinen Schmuck und meine Automobile. Ich hinterlasse meinen Nachkommen aus der Ehe mit Spencer Pike mein Grundeigentum an der Kreuzung von Otter Creek Pass und Montgomery Road in Comtosook, Chittenden County im Staate Vermont. Sollten bis zum Zeitpunkt meines Todes keine lebenden Nachkommen aus meiner Ehe mit Spencer Pike hervorgegangen sein, so hinterlasse ich das oben genannte Grundeigentum meinem Ehemann Spencer Pike.
In dem Testament stand nichts darüber, wie ausgerechnet diese Frau mit so wenig Selbstbewusstsein in den Besitz des Grundstücks und des Hauses gekommen war. Ebenso wenig ging daraus hervor, wie ihr Mann ihren frühzeitigen Tod verkraftet hatte, ob er jeden Quadratzentimeter des Grundstücks, das jetzt ihm gehörte, liebend gern verschenkt hätte, wenn er sie dadurch hätte zurückbekommen können.
Shelby verließ das Nachlassgericht. Kaum hatte sie einen Fuß auf die Straße gesetzt, kam ein Streifenwagen der Polizei mit quietschenden Reifen angebraust und hielt knapp vor ihr. Der
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