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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Lungenentzündung liegen nicht vor. Sektionen des Leberhämatoms bestätigen den Eindruck, dass keine erkennbare Blutverteilung vorliegt. Sektionen der übrigen Eingeweide ergeben keine Auffälligkeiten.

    »Übersetz mir das, Wesley«, sagte Eli. Er saß auf der Veranda des alten Mannes, ein Glas Limonade in der Hand.
    Wesley Sneap war der einzige Arzt des Ortes gewesen – und bis 1985 auch als Coroner eingesprungen. Jetzt lebte Wesley zwar im Ruhestand, hatte aber noch immer ein Mikroskop und ein provisorisches Labor im Keller.
    »Tja«, seufzte er, »sie wurde erhängt, eindeutig. Das sieht man in ihrem Gesicht und daran, wie sie sich den Hals zerkratzt hat.«
    Eli beugte sich vor, die Hände gefaltet. »Was noch?«
    Der Doktor überflog den Bericht ein zweites Mal. »Einiges, was hier steht, bestätigt, dass sie kurz zuvor entbunden hat … die Dicke des Uterus, die Kolostralmilch, die Größe des Herzens. Ach, und einige Stunden vor ihrem Tod hatte sie einen Kampf mit jemandem. Sie hat Blutergüsse an Schienbeinen und Handgelenken, aber nur die Handgelenke sind als Reaktion auf die Verletzung geschwollen. Die Blutergüsse an den Schienbeinen nicht, weil sie schon tot war, bevor eine Zellreaktion erfolgen konnte. Hat wahrscheinlich wie verrückt um sich getreten, um sich zu befreien.«
    »Wann ist der Tod eingetreten?«
    »Mal sehen.« Wesley legte die Stirn in Falten. »Nichts im Magen, aber sie war ja schließlich mit der Geburt beschäftigt. Aber es lässt sich einigermaßen bestimmen, wie lange sie gehangen hat … sie hatte schon Totenflecke – also Hautverfärbungen durch Blutansammlungen, an Beinen und Unterarmen … sie hat mindesten vier oder fünf Stunden gehangen. Aber nicht viel länger, denn dann hätte sich nichts mehr verändert. Es hat aber eine Umverteilung des Blutes auf die Rückseite des Rumpfes gegeben, nachdem sie abgeschnitten wurde.«
    »Der Ehemann hat ausgesagt, dass er die Leiche am Vormittag gegen halb elf abgeschnitten hat … aber der Mörder ist mitten in der Nacht ins Haus gekommen.«
    Wesley schüttelte den Kopf. »Das haut nicht hin. Laut Obduktionsbefund muss sie gegen sechs Uhr morgens erhängt worden sein, wenn sie um halb elf abgeschnitten wurde.«
    »Und wenn sie mitten in der Nacht aufgehängt wurde?«, fragte Eli.
    »Dann hat man sie gegen sechs oder sieben Uhr morgens abgeschnitten. Sonst wären die Totenflecke unveränderlich gewesen und hätten sich nicht mehr auf die Rückseite des Rumpfes verteilt.«
    Er nahm einen von den Objektträgern, die an den Obduktionsbericht gesteckt waren, und hielt ihn gegen das Licht. »Ha.«
    »Was siehst du da?«
    »Tja, mein Kollege von damals erwähnt einen Bluterguss an der rechten Körperseite, und dann spricht er von einem Leberhämatom. Offenbar ist er von einem physischen Trauma ausgegangen. Er hat gedacht, das Hämatom bestünde aus vergrößerten Blutgefäßen, als Folge eines rechtsseitigen Herzfehlers.«
    »Wie bitte?«
    »Man muss sich das wie ein verstopftes Rohr vorstellen: Wenn das Herz nicht gut funktioniert, staut sich alles in der Leber. Aber die Frau war auf der Stelle tot … für so eine Reaktion wäre keine Zeit gewesen.« Er blickte mit zusammengekniffenen Augen auf das Dia. »Komm mal mit nach unten. Ich will mir das genauer ansehen.«
    Eli folgte Wesley hinunter in den Keller zu einem Untersuchungstisch aus Chrom und einer Arbeitsplatte voller Instrumente und Mikroskope. »Ich erinnere mich an den Fall«, sagte er. »Als ich 1943 nach Comtosook zog, sprachen die Leute noch darüber. Ja, die Jungs damals haben sich am Halloween-Abend im Wald auf dem Pike-Grundstück versteckt, damit sie am nächsten Tag in der Schule damit prahlen konnten.«
    »Tatsächlich? Was haben sie denn so erzählt?«
    »Eigentlich nicht viel. Das war eine Mutprobe für sie, und wenn sie wiederkamen, waren sie alle ziemlich kleinlaut. Einer von ihnen, ein richtiges Football-Ass, war mein Patient, weil er den ganzen November lang kein Wort mehr rauskriegte. Ich hab ihn nach Boston schicken müssen, zur Kehlkopfuntersuchung bei einem teuren Spezialisten.«
    »Und was fehlte ihm?«
    »Nicht das Geringste, körperlich. Irgendwann hat er wieder sprechen können, als wäre nie was gewesen.«
    »Glaubst du, dem ist auf dem Pike-Grundstück irgendwas passiert?«
    Wesley zuckte die Achseln. »Einem Körper kann so manches passieren, das nie in irgendwelchen Medizinbüchern auftaucht. Zum Beispiel, dass man an Trauer sterben kann, oder das

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