Zeit der Gespenster
Anblick nicht ertragen. Sie sah aus …« Seine Stimme verlor sich. »Sie sah aus, als hätte sie Schmerzen.«
»Was war mit ihrem Vater?«
»Harry? Der war in Boston auf einem Kongress und ist auf der Stelle zurückgekommen. Er war nie mehr der Alte nach dem Mord an Cissy … hat sich zwei Jahre später zu Tode getrunken.«
Boston. Damit war er als Verdächtiger auszuschließen. »Haben Sie damals irgendwo einen Stuhl oder Hocker gesehen?«, fragte Eli. »Irgendwas, auf das Ihre Frau geklettert sein könnte?«
»Meine Frau wurde ermordet«, stellte Pike klar, die Stimme trocken wie Feuerstein. »Wenn sie Selbstmord begangen hätte, dann hätte sie zu dem Dachbalken hochfliegen müssen – der war drei Meter über dem Boden, und es war nichts da, auf das sie sich hätte stellen können.«
Eli blickte dem alten Mann unverwandt in die Augen. »Mr. Pike, ich möchte nur verstehen, was passiert ist. Durch den ganzen Wirbel, den der Verkauf Ihres Besitzes ausgelöst hat, sind wir auf ein paar Spuren bezüglich Gray Wolf gestoßen. In meinen Augen wurde der Fall damals nicht befriedigend abgeschlossen.«
»Seh ich auch so.«
Eli wartete, wusste er doch, dass Schweigen den größten Druck ausüben konnte, aber Pike gestand nichts. Eine Krankenschwester kam und sagte mit einem Lächeln: »Zeit für Ihre Physiotherapie.«
Eli legte eine Hand auf den Rollstuhl. »Haben Sie eine Ahnung, wohin Gray Wolf nach der Nacht gegangen sein könnte?«
Pike schüttelte den Kopf. »Aber wenn Sie ihn unbedingt finden wollen, Detective, dann sollten Sie als Erstes in der Hölle nach ihm suchen.«
Eli sah dem alten Mann nach, den die Krankenschwester in seinem Rollstuhl davonschob. Er wartete, bis er um die Ecke gebogen war. Dann zog er ein Paar Gummihandschuhe aus der Tasche, öffnete einen Plastikbeutel und nahm das Wasserglas des alten Mannes vom Tablett.
In Comtosook kehrte allmählich alles wieder zur Normalität zurück. Die Uhren, die vor einigen Wochen um Punkt Mitternacht stehen geblieben waren, tickten wieder. Schmetterlinge, die grau geworden waren, schimmerten in frischen Farben. Die Leuchtkäfer, die die Birken vor der Stadtverwaltung befallen hatten, waren verschwunden.
Nicht wenige Bewohner des Ortes fragten sich, warum sie sich so leer fühlten. Es fehlte ihnen etwas, das sie nie beim Namen hätten nennen können.
Shelby schaffte es mit knapper Not aus der Anwaltskanzlei ins Freie, wo sie sich übergab. Anschließend ließ sie sich auf den Bordstein sinken und begann, mit sich zu hadern. Schließlich war es ganz normal, zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben ein Testament aufzusetzen, erst recht, wenn man einen Sohn hatte.
Doch Shelby wusste nun einmal mit Sicherheit, dass ihr Hab und Gut, das sie soeben an Ethan vermacht hatte, nie ihm gehören würde.
Shelbys Wehen hatten während eines Gewitters eingesetzt. Thomas hatte sie in ihr altes Cabrio verfrachtet, dessen Dach immerzu klemmte, wenn man es schließen wollte. Auf dem Weg ins Krankenhaus wurde sie vom Regen klatschnass. Als man ihr den Kleinen auf die Brust legte, weich und klebrig wie ein Frosch, konnte Shelby den Blick nicht von ihm reißen. »Sieh doch«, hatte sie immer wieder zu Thomas gesagt, »hast du schon mal so was Schönes gesehen?«
Ethan war kräftig, mit dunklen Haaren, entschlossenen Fäustchen und blass-türkisblauen Augen. Alle waren ganz vernarrt in ihn, und auf der Straße sprachen die Menschen sie an und sagten: »Was für ein süßes Baby.« Ethans Schwächen waren, wie sich herausstellte, nicht sichtbar.
Den ersten schlimmen Sonnenbrand bekam er mit sechs Wochen. Thomas und Shelby lebten zu der Zeit in New Hampshire, an der Küste, und im Oktober, wenn die Strände leer waren, fuhren sie ins Vogelschutzgebiet auf Plum Island. Dort, an dem langen, einsamen Strand, wo ihnen die Möwen die Kräcker stibitzten, legten sie den schlafenden Ethan in den Sand und küssten sich, streichelten sich gegenseitig unter dem Pullover, die Haare ganz steif vom Salz in der Luft. »Wir führen uns auf wie die Teenager«, sagte Shelby, als Thomas den Reißverschluss ihrer Jeans öffnete. Und Thomas hatte lachend erwidert: »Teenager haben aber keine Kindersitze.«
Sie vergaßen alles um sich herum und bemerkten nicht, wie sich die Haut ihres Babys beunruhigend rot verfärbte. Ihnen war nicht klar, dass das, was sie für Ausschlag hielten, in Wirklichkeit Brandblasen sein könnten.
Die Ärzte hatten ihr nicht sagen können, ob ihre oder
Weitere Kostenlose Bücher