Zeit der Hingabe
nicht, ob die Affäre folgenlos im Sande verlaufen wird, Miranda“, hatte Annis in ihrer nüchternen Art zu bedenken gegeben. „Du weißt selbst, wie rasch Gerüchte sich verbreiten, und ich könnte mir vorstellen, dass Mr St. John vor seiner Entführung in voller Absicht einige schlüpfrige Bemerkungen fallen ließ.“ Der Blick ihrer blauen Augen ruhte mitfühlend auf Miranda. „Ich befürchte, dein Ruf ist ruiniert.“
Miranda schluckte gegen die Übelkeit an, die in ihr aufstieg. „Es gibt Schlimmeres im Leben.“
Die Wahrheit sah freilich anders aus. Ihre Eltern waren eilends nach England zurückgekehrt. Ihre Mutter schloss sie ohne ein Wort des Vorwurfs tröstend in die Arme, während ihr Vater sich in erschreckend ausführlichen Details darüber erging, welche Körperteile St. Johns er den Fischen zum Fraß vorzuwerfen gedachte. Als ihr monatlicher Zyklus pünktlich einsetzte, atmete Miranda erleichtert auf, und ihre Familie blieb weiterhin über den Verlust ihrer Jungfräulichkeit in Unkenntnis.
Letztlich hatte dieses Detail keine Bedeutung. Miranda war in der Gesellschaft nicht mehr erwünscht. Ihre Mitgliedschaft im Almack’s Club wurde diskret gekündigt. Mütter zogen ihre Töchter auf die andere Straßenseite, um ihr nicht begegnen zu müssen, und wenn ein Treffen sich nicht vermeiden ließ, wurde sie grußlos geschnitten. Sie war eine Ausgestoßene, eine Verfemte – genau, wie Christopher St. John es prophezeit hatte.
Er besaß auch noch die unerhörte Dreistigkeit, bei ihren Eltern vorzusprechen und um ihre Hand anzuhalten. Er beteuerte überschwänglich, seine Leidenschaft für ihre Tochter habe ihn zu dieser Tollkühnheit bewogen, und er wünsche sich nichts sehnlicher als eine Heirat mit Miranda. Dann würde auch der Skandal rasch vergessen sein. Er behauptete, sie liebten einander, und seine Miranda würde ihm bald nicht mehr böse sein.
Im Übrigen sei eine Ehe mit ihm die einzige Lösung, um ihren Ruf wiederherzustellen. Wenn sie es wünsche, könnten sie sogar in getrennten Wohnungen leben. Außerdem garantiere er, ihr regelmäßig eine großzügige Summe des Vermögens zukommen zu lassen, das er mit der Eheschließung für sie verwalten würde.
Es war ihr Vater, Adrian Rohan, Marquess of Haverstoke höchstpersönlich, der ihn die breite Marmortreppe im großen Haus in der Clarges Street hinuntergeworfen hatte.
Miranda hatte sich für einige Monate aufs Land zurückgezogen, bis ein neuer Skandal die Gemüter der gehobenen Kreise erhitzte. Sie bezweifelte jedoch keine Sekunde, dass ihr dieser Sündenfall niemals vergeben würde. Ihr Ruf war ein für alle Mal ruiniert, und nichts würde sich je daran ändern. Aber das Leben ging weiter, und als Miranda in die Stadt zurückkehrte, hatte sich ihre Einstellung zu ihrer Situation grundsätzlich verändert.
Zu ihrer großen Freude hatte sie nämlich die Entdeckung gemacht, dass ein ruinierter Ruf ihr ein weitaus freieres Leben bescherte als der Heiratsmarkt. Sie war nicht länger gezwungen, mit nichtssagenden jungen Herren belangloses Zeug zu plaudern und affektiert zu schäkern, musste nicht auf Schritt und Tritt von einem Diener oder ihrer Zofe begleiten werden. Sie erstand ein eigenes Haus. Kein prächtiges Anwesen, nur eine bescheidene Bleibe, aber immerhin ihr eigenes Reich, in dem sie schalten und walten konnte, wie es ihr beliebte. Sie unternahm ausgedehnte Ausritte in den Parks, scherte sich nicht um missbilligende Blicke der Klatschbasen und ignorierte dreiste Avancen junger Herren. Sie besuchte Oper, Theater und Bibliotheken und genoss die Gesellschaft ihrer Cousine Louisa, einer älteren Dame, die nahezu taub und wegen ihrer Korpulenz schlecht zu Fuß war.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Miranda sich ungebunden und genoss ihre Freiheit in vollen Zügen. Sie fühlte sich rundum wohl, konnte auf den Rückhalt ihrer Familie zählen und auf ihre beste Freundin Jane. Im Grunde genommen hatte sie kaum etwas verloren und eine ganze neue Welt gewonnen. Abgesehen von der Schande, die sie über ihre Familie gebracht hatte, empfand sie kein Bedauern. Im darauffolgenden Frühling hatte sie es sich in ihrem neuen Leben angenehm eingerichtet und nicht den Wunsch, irgendetwas daran zu ändern.
Christopher St. John erging es weitaus weniger angenehm.
Das Haus am Cadogan Place hatte seit jeher mulmige Gefühle in ihm geweckt. Es lag nicht an dem düsteren unheimlichen Anwesen. Auch nicht an dessen Lage am Rande der vornehmen
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