Zeit der Idioten
Umlauf sein. Die haben, glaube ich, zwei-, dreihundert Mini-Nukes gehabt, aber in der Zeit, als das Sowjetreich zerfallen ist, hat die russische Armee die Kontrolle verloren, und jetzt fehlen denen einhundert oder so!«
»He, du bist ja doch ein richtiger Experte.«
»Jessasmarandjosef, nein. Ich interessiere mich nur einseitig oder oberflächlich dafür, und das ganz bewusst. Experten sind meiner Meinung nach um keinen Deut besser als die Fanatiker selbst, weil sie in Wahrheit auch welche sind, nur sind sie feige und abgehoben und wiegen sich in ihren intellektuellen Schaukelstühlen auf der moralisch ach so guten Seite des Spiels.«
»Irgendwie bewunderst du diese Idioten, nicht wahr?«
»Die Experten?«
»Nein, ich meine Meine Wenigkeit zum Beispiel, oder vielleicht auch diesen Snake.«
»Bewundern tu ich sie nicht. Aber gerade vorhin, als ich auf dem Klo war, habe ich gedacht, es ist schon interessant, dass in einem Kaff wie Bölling gleich ein paar Typen von diesem Virus Rock’n’Roll infiziert werden konnten.«
»Naja, gerade in so einem Kaff ist das doch verständlich, oder?«
»Wahrscheinlich hast du Recht. Trotzdem ist Rock’n’Roll eher was Urbanes.«
»Ja, aber er ist vielleicht auch ein probates Mittel, um seine Sehnsucht nach Urbanität auszudrücken. Das Rebellische hat ja jeder in sich, egal woher er kommt.«
Jetzt sind wir plötzlich still. Es gibt Momente, die zeigen dir das Ende der Sprache auf. Genau so ein Moment ist jetzt.
Johanna lächelt. Ich mag sie. Sie nimmt meine Hand, drückt sie kurz und lässt wieder los. Ihre Hand ist ruhig und warm. Dann atmet sie durch. Ich erwische einen Hauch ihres Atems. Er ist warm und riecht nach einer Mischung aus Kaugummi und Bier, aber nicht unangenehm. Ich habe gar nicht bemerkt, dass sie einen Kaugummi kaut. Sie zieht ihre Unterlippe in ihren Mund. Ich würde ihr gerne folgen. Ihr Unterkiefer drückt die Lippe wieder nach außen. Die Partie um ihre Lippen glänzt jetzt. Sie schaut sich im Lokal um und wischt mit der Hand unsicher über die Tischplatte. Ich sollte jetzt reagieren, sitze aber nur da, passiv wie ein Vollidiot. Fehlt nur noch, dass Speichel meinen Mund verlässt. Und schon ist sie wieder da, die Sprache.
»Viele sagen ja, dass Rock’n’Roll seine Kraft verloren hat, als die Wirtschaft ihn eingesogen hat«, fahre ich fort. Seht ihr, ich weiß, was Frauen wollen.
»Stimmt wahrscheinlich auch, oder?«
»Vielleicht, das wäre dann aber schon in den Siebzigern passiert. Spätestens. Damals, als lange Haare oder eine elektrische Gitarre genügten, um Politik zu machen. Heute müssen Musiker zu Politikern werden, um irgendwas bewirken zu können. Aber weißt du, ich glaube felsenfest daran, dass Rock’n’Roll in Wahrheit und in seiner Essenz etwas zutiefst Individuelles ist. Das Gesellschaftliche oder Politische ist nur eine mögliche Konsequenz, die immer unwahrscheinlicher wird. Aber zur Befreiung deiner eigenen, was weiß ich, Seele, oder zum Ausgleich für deinen scheiß Alltag oder, wie du vorhin gesagt hast, zur Artikulation deiner Sehnsüchte, ist Rock’n’Roll heute ebenso gut wie 1965. Diese Kraft ist unzerstörbar und sie ist für jeden verfügbar. Und auch hier sind es die blöden Experten und Kritiker, die an dieser Kraft rütteln, die ihre eigenen Interpretationen zu Dogmen erklären und von oben herab bestimmen wollen, wer dazu fähig ist und wer nicht.«
Jessasmarandjosef. Jetzt gehe ich zu weit. Jetzt ist ihre Aufmerksamkeit weg und ich vermassle alles. Die Energie, die uns noch vor ein paar Minuten ganz von allein zusammengehalten hat, ist beim Teufel. Es ist, wie Dylan gesagt hat. Eben noch war er hier, mein Song. Und jetzt ist er weg. Da rede ich groß von Idioten und bin selbst der größte.
»Cornelius!«
Es ist Bob, der mich herbeiwinkt, also gehen wir wieder an die Bar, und irgendwie ist das jetzt fast wie eine Rettung. Der Firngruber Hansi steht neben Bob.
»Snake, das ist Cornelius. Cornelius, Snake. Ihr kennt euch ja, nehm ich einmal an.« Bob kann so dämlich sein – natürlich kennen wir uns, aber wir haben uns schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. »Also Cornelius, Snake spielt nächste Woche wieder hier und bräuchte einen Gitarristen.«
»Oh, ich, naja, in Wien kenne ich schon ein paar, aber hier …«
Bobs Augen werden groß wie Tennisbälle.
»Ich meine, ja, ich könnte auch, wenn du willst, ich müsste einmal in meinen Kalender sehen.«
»Das ist ja super«, strahlt Johanna.
»Okay,
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