Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Sie die Rechnung übernommen und gesagt haben, ich kümmere mich darum. Womit Sie ausdrücken
wollten, dass Sie für mich mitbezahlen. Und dann habe ich mir überlegt, was wäre, wenn Alison damit etwas anderes gemeint hat? Dass sie sich zum Beispiel finanziell um Julia kümmern, mit ihr teilen wollte? Wenn sie zum Beispiel wüsste, dass ihr die ganze Erbschaft zufällt, Julia aber leer ausgeht und deswegen stinkig ist? Aber Julia hatte mir erzählt, dass alles gleichmäßig aufgeteilt werden würde und sie ohnehin schon reich wäre, weil der alte Herr seit jeher großzügig und gerecht gewesen sei. Daher habe ich mich eins gefragt: Was wäre, wenn sie diesbezüglich lügt? Wenn der alte Herr nicht großzügig und gerecht war? Wenn sie nicht reich ist?«
»Hat sie diesbezüglich gelogen?«
Reacher nickte. »Es muss so sein. Denn plötzlich passte eins zum andern. Mir wurde klar, dass sie nicht so aussieht, als wäre sie reich. Sie trägt billige Klamotten. Sie hat einen billigen Koffer.«
»Wollen Sie etwa alles an einem Koffer aufhängen?«
Er zuckte die Achseln. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es nur ein Kartenhaus ist. Aber meiner Meinung nach merkt man es jemandem an, wenn er neben seinem Gehalt noch ein bisschen Geld in der Hinterhand hat. Selbst wenn er noch so sparsam und zurückhaltend damit umgeht. Und bei Julia Lamarr hatte man nicht den Eindruck. Sie wirkte einfach arm. Folglich hat sie gelogen. Und Jodie hat mir erzählt, dass es in ihrer Kanzlei die so genannte Was-sonst-noch -Regel gibt. Wenn sie feststellen, dass jemand in einem Punkt lügt, fragen sie sich, was verschweigt er uns sonst noch? Was für Lügen tischt er uns sonst noch auf? Daher habe ich mir überlegt, was wäre, wenn sie auch bezüglich ihrer Schwester lügt? Was wäre, wenn sie sie nach wie vor hasst und ablehnt, so wie sie’s als kleines Mädchen getan hat? Und was wäre, wenn sie hinsichtlich der Erbschaft lügt und überhaupt nichts erbt?«
»Haben Sie es überprüft?«
»Wie denn? Aber überprüfen Sie’s selber, dann werden Sie es herausfinden. Es ist die einzige Möglichkeit. Und danach dachte ich mir, was kommt sonst noch in Frage? Was wäre, wenn alles erstunken und erlogen ist? Auch ihre Flugangst? Was, wenn es sich um eine gewaltige Lüge handelt, so offensichtlich und nahe liegend, dass niemand einen Gedanken darauf verschwendet? Ich habe Sie sogar gefragt, wieso man ihr das durchgehen lässt. Sie haben gesagt, dass sich alle darauf einstellen, als wäre es ein Naturgesetz. Tja, und genau das haben wir alle gemacht: uns damit abgefunden. Und eben das war ihre Absicht. Denn dadurch war sie über jeden Verdacht erhaben. Aber es war alles Lug und Trug. Sie war viel zu rational für Flugangst.«
»Aber das kann man doch nicht einfach so erfinden. Meiner Meinung nach hat man Angst vor dem Fliegen oder man hat keine.«
»Früher hatte sie keine«, sagte Reacher. »Das hat sie mir erzählt. Irgendwann wollte sie vermutlich nicht mehr und hat es sein lassen. Deshalb klang es so überzeugend. Keiner, der sie kannte, hat sie jemals fliegen sehen. Daher glaubten ihr alle. Aber wenn es darauf ankam, sich lohnte, konnte sie durchaus in ein Flugzeug steigen. Und in diesem Fall lohnte es sich durchaus. Sie hatte das beste Motiv, das es gibt. Alison bekam all das, was sie haben wollte. Sie war das Aschenputtel, das sich vor Neid, Missgunst und Hass förmlich verzehrte.«
»Na ja, ich bin jedenfalls darauf reingefallen«, meinte Harper.
»Alle sind drauf reingefallen«, sagte er. »Deswegen hat sie sich ja die entlegensten Ecken des Landes ausgesucht. Damit sich jeder erst mal den Kopf über die geografische Lage der Tatorte, den Aktionsradius des Täters, seine Mobilität und Möglichkeiten den Kopf zerbricht. Damit sie von vornherein nicht in Betracht kommt.«
Harper schwieg einen Moment. »Aber sie war völlig aufgelöst.
Sie hat geweint , wissen Sie noch? Vor unser aller Augen.«
Reacher schüttelte den Kopf. »Sie war nicht aufgelöst. Sie hatte Angst. Sie schwebte in höchster Gefahr. Überlegen Sie mal, was kurz davor passiert ist. Sie hat sich geweigert, ihre Ruhepause anzutreten. Weil sie wusste, dass sie in der Nähe sein muss, um notfalls einzugreifen, falls sich bei der Obduktion irgendwas ergeben sollte. Und dann habe ich das Motiv in Frage gestellt, und sie hat sich höllisch darüber aufgeregt, weil ich möglicherweise die richtige Richtung eingeschlagen hätte. Aber dann kam mir die Idee, es könnte sich
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