Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
womöglich um eine Schieberei bei der Army handeln, und erst da hat sie geweint, aber nicht, weil sie aufgelöst oder außer sich war. Sie hat vor Erleichterung geweint. Ich war ihr nicht auf die Schliche gekommen. Und Sie wissen sicher auch noch, was sie danach gemacht hat.«
Harper nickte. »Sie hat Ihnen beigepflichtet, dass es sich um Waffenschieberei handeln könnte.«
»Genau«, bestätigte Reacher. »Sie hat sich meine Argumente zueigen gemacht. Hat mir allerhand Aussagen in den Mund gelegt. Hat gesagt, wir sollten zweigleisig denken, der Sache nachgehen, mit vollem Einsatz. Sie ist auf den fahrenden Zug aufgesprungen, weil sie begriffen hat, dass der Zug in die falsche Richtung fährt. Sie hat scharf nachgedacht, wild improvisiert und uns in eine weitere Sackgasse geschickt. Aber sie hat nicht scharf genug nachgedacht, denn diese Waffenschieberei war von Anfang an Blödsinn. Sie hat einen Fehler begangen, einen riesengroßen sogar.«
»Was für einen Fehler?«
»Es wäre ein geradezu unglaublicher Zufall gewesen, wenn es sich bei den möglichen Zeuginnen ausgerechnet um die elf Frauen gehandelt hätte, die offensichtlich allein lebten. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich auch eine Probe aufs Exempel machen wollte. Ich wollte sehen, wer die Idee nicht unterstützt. Das war nur Poulton. Blake hatte keine
Meinung, aber er war wegen Lamarr durcheinander. Lamarr indessen stand voll und ganz dahinter. Sie war unbedingt dafür, weil ihr das Sicherheit bot. Und dann ging sie nach Hause, unser aller Mitgefühl gewiss. Aber sie ist nicht nach Hause gegangen. Und wenn, dann allenfalls, um eine Reisetasche zu packen. Anschließend ist sie sofort hierher gefahren und hat sich ans Werk gemacht.«
»Sie hat es sogar gestanden«, sagte Harper. »Seinerzeit, bevor sie nach Hause gegangen ist. Können Sie sich daran erinnern? Ich habe meine Schwester umgebracht , hat sie gesagt. Weil sie zu viel Zeit vergeudet hätte, wollte sie damit ausdrücken. Aber es stimmte tatsächlich. Sie hat sich einen schlechten Scherz erlaubt. Abartig.«
Reacher nickte. »Allerdings. Sie hat vier Frauen umgebracht, um an das Geld ihres Stiefvaters zu kommen. Und dazu die Sache mit der Farbe. Das war von Anfang an so was von bizarr. So abstrus, dass es kaum zu fassen ist. Aber auch schwierig durchzuführen. Was das für Umstände gemacht hat! Warum sollte jemand so ein Brimborium veranstalten?«
»Um uns zu verwirren.«
»Und?«
»Weil sie es genossen hat«, sagte Harper. »Weil sie tatsächlich abartig ist.«
»Vollkommen abartig«, wiederholte Reacher. »Aber auch sehr gerissen. Können Sie sich die Vorbereitungen vorstellen, die dazu nötig waren? Sie muss schon vor zwei Jahren damit angefangen haben. Ihr Stiefvater wurde etwa zur gleichen Zeit krank, als ihre Schwester bei der Army ausschied. Damals hat sie alles in die Wege geleitet. Sehr, sehr sorgfältig. Sie hat sich von ihrer Schwester die Mitgliedsliste der Selbsthilfegruppe besorgt, diejenigen ausgewählt, die allein lebten, genau wie ich, und dann hat sie alle elf aufgesucht, heimlich, am Wochenende vermutlich, per Flugzeug. Konnte überall reinspazieren, weil sie eine Frau war, weil sie
eine FBI-Plakette besaß. So wie Sie neulich von Alison Lamarr ohne weiteres eingelassen wurden oder vorhin an dem Cop vorbeigekommen sind. Niemand misstraut einer Frau mit einer FBI-Plakette, oder? Dann hat sie ihnen vermutlich irgendeine Geschichte aufgetischt, zum Beispiel, dass das FBI die Army endlich belangen wollte, was die Frauen wahrscheinlich mit Genugtuung zur Kenntnis nahmen. Sie hat ihnen erzählt, dass sie umfangreiche Ermittlungen in die Wege leiten würde, und sie dann gefragt, ob sie sie hypnotisieren dürfte, um weitere Erkenntnisse in dieser Sache zu erlangen.«
»Ihre eigene Schwester eingeschlossen. Aber wie konnte sie das, wenn Alison nicht erfahren durfte, dass sie hingeflogen ist.«
»Sie ließ Alison nach Quantico kommen. Können Sie sich erinnern? Alison hat erzählt, sie sei nach Quantico geflogen, damit Julia sie hypnotisieren konnte, um nach verdrängten Eindrücken zu forschen. Sie hat aber nicht nach verdrängten Erinnerungen gefragt, hat ihr überhaupt keine Fragen gestellt, sondern ihr Anweisungen für die Zukunft gegeben. Sie hat ihr – wie allen anderen – gesagt, wie sie sich verhalten soll. Lorraine Stanley diente seinerzeit noch, deshalb hat sie ihr befohlen, die Farbe zu stehlen und zu verstecken. Den anderen hat sie angekündigt, dass in nächster
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