Zeit der Sinnlichkeit
seinem Ärmel und wischte sich damit über die feuchte Stirn. Der Mann entfernte die Platte, unter der sich ein etwas beflecktes Leinenpolster befand.
Vorsichtig löste er das Polster, so daß wir in seiner Brust ein großes Loch, ungefähr von der Größe eines Tafelapfels, erblicken konnten, und als ich mich vorbeugte, um es genauer zu sehen, bemerkte ich tief drinnen eine rosa, feucht-fleischige Masse, die sich gleichmäßig pulsierend bewegte.
»Siehst du?« rief Pearce, dessen hitzig-erregter Körper den Raum mit tropischer Feuchtigkeit zu füllen schien. »Siehst du, wie es sich zusammenzieht und wieder ausdehnt? Wir sehen mit eigenen Augen ein lebendiges, schlagendes Herz!«
Der Mann nickte lächelnd. »Ja«, sagte er. »Ein Rippenbruch durch einen Sturz von meinem Pferd vor zwei Jahren führte zu einer schlimmen Eiterung. Dadurch wurden so viele Fäulnisstoffe freigesetzt, daß meine Ärzte fürchteten, die Wunde würde nie heilen. Sie tat es jedoch. Man kann den Wulst des alten Geschwürs hier am Rande des Loches sehen. Aber
die Zerstörungen gingen so tief, daß sie das Herz freilegten.«
Ich war sprachlos. Es berührte mich in meinem tiefsten Innern, daß ich hier an einem lebenden Menschen, der nonchalant am Feuer stand, als ob er Freunde für ein paar Besiguerunden erwartete, die Systole und Diastole seines Herzens beobachten konnte. Ich konnte jetzt verstehen, warum Pearce vor Aufregung so schwitzte. Doch dann – und deshalb halte ich diesen Vorfall als einen möglichen Beginn der Geschichte fest, die sich um mich herum entwickelt – holte Pearce aus dem speckigen Ledergeldbeutel, in dem er seine kläglichen weltlichen Einkünfte aufbewahrte, einen Shilling hervor und gab ihn dem Fremden; der Mann nahm ihn und sagte: »Wenn Ihr wollt, könnt Ihr es anfassen.«
Ich ließ Pearce den Vortritt. Ich sah, wie er seine dünne weiße Hand langsam ausstreckte und zitternd in den Brustkorb hineinschob. Der Mann blieb ruhig und hörte nicht auf zu lächeln. Er zuckte nicht zurück. »Ihr dürft«, sagte er zu Pearce, »mein Herz in die Hand nehmen und es leicht drücken.«
Pearce blieb der Mund offenstehen. Dann schluckte er und zog seine Hand zurück. »Das kann ich nicht, Sir«, stotterte er.
»Dann vielleicht Euer Freund?« fragte der Mann.
Ich schlug die Spitzenstulpe an meinem Handgelenk zurück. Jetzt war es an mir zu zittern. Mir fiel ein, daß ich, als Pearce in mein Zimmer kam, gerade zwei Kohlestücke ins Feuer geworfen hatte; seitdem hatte ich mir die Hände nicht gewaschen, sondern sie nur achtlos an meinem Hosenboden abgewischt. Ich untersuchte meine Handfläche auf Kohlenstaub. Sie war leicht grau angeschmutzt. Ich leckte sie ab und
rieb damit wieder über meinen Samthintern. Der Mann mit dem offenen Herzen beobachtete mich ohne jede Besorgnis. Pearce, der in seinem feuchten Dunst dicht neben mir stand, atmete geräuschvoll durch den Mund.
Meine Hand drang in die Höhle ein. Ich spreizte die Finger und griff mit der gleichen Vorsicht nach dem Herzen, mit der ich als Junge Eier aus Vogelnestern gestohlen hatte. Der Mann zeigte noch immer keine Regung. Ich griff ein wenig fester zu. Der Herzschlag blieb kräftig und gleichmäßig. Gerade als ich die Hand wieder zurückziehen wollte, fragte der Fremde: »Berührt Ihr mein Herz, Sir?«
»Ja«, sagte ich, »fühlt Ihr denn nicht den Druck meiner Hand?«
»Nein. Ich fühle überhaupt nichts.«
Pearce neben mir atmete keuchend, wie ein von Hunden gehetzter Hase. Eine Schweißperle baumelte an seiner rosa Nasenspitze. Und mein Kopf mußte sich nun mit einem erstaunlichen Phänomen auseinandersetzen: Ich umfasse mit meiner Hand ein menschliches Herz, ein lebendes menschliches Herz. Ja, ich drücke es jetzt mit mäßiger, aber nicht unerheblicher Kraft. Und der Mann fühlt überhaupt keinen Schmerz.
Ergo, das Organ, das wir Herz nennen und von dem, wie wir meinen, alle starken Gefühle, von unerträglicher Sorge bis zu ekstatischer Liebe, ausgehen – oft wird es ehrfurchtsvoll sogar als Schrein der Seele bezeichnet –, ist an sich ganz und gar gefühllos.
Ich zog meine Hand zurück. Ich war jetzt ebenso aufgewühlt wie mein armer Quäker-Freund, den ich gern um ein Schlückchen Brandy gebeten hätte, doch ich wußte ja, daß er nie welchen da hatte. So setzten Pearce und ich uns auf
die harte Holzbank, während unser Besucher ruhig sein Leinenpolster und seine Panzerplatte wieder anlegte und dann sein Hemd aufhob; für eine ganze Weile
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