Zeit der Sinnlichkeit
schäbigen Dachkammer, wurde mir das, was geschehen war, so schlagartig, als wäre ich plötzlich auf ein Wespennest gestoßen, in seiner ganzen schrecklichen Tragweite bewußt. Ich war nur eine Handschuhlänge von der Macht entfernt gewesen und hatte nicht zugegriffen. Sie war für mich erreichbar gewesen, doch nun war die Chance ein für allemal verpaßt.
Ich begann wie ein gequältes Schwein zu heulen.
4. Es ist nicht klar, wodurch das Feuer in der Werkstatt meines Vaters am Neujahrstag des Jahres 1662 ausgelöst wurde. Der Raum war natürlich vollgestopft mit Holzkisten und -regalen, in denen die leicht entflammbaren Materialien seines Gewerbes aufbewahrt waren: Filz, Steifleinwand, Ziegenleder, Pelz, Spitze, Federn, Bänder und Ballen von Satin, Kamelott und Seide. Ein kleiner Brand, verursacht durch eine umgefallene Öllampe oder Kerze, fand hier reichlich Nahrung.
Man weiß lediglich, daß das Feuer am späten Abend ausbrach, die Werkstatt verschlang und sich gierig nach oben hin ausbreitete, wo die Wohnräume meiner Eltern lagen. Diese waren wohl gerade beim Abendessen. Ihrem Diener Latimer gelang es, ein kleines Schrägfenster zu öffnen und auf das Dach hinauszuklettern, von wo aus er dann versuchte,
seine nicht mehr so behenden Herrschaften heraufzuziehen und in Sicherheit zu bringen. Meine Mutter hatte auch schon Latimers Hand ergriffen, als sie plötzlich würgend und vom Rauch erstickt zurückfiel. Mein Vater versuchte, sie Latimer wieder entgegenzuheben, doch sie lag bewußtlos in seinen Armen.
»Hol ein Seil!« wird mein Vater wohl geschrien haben, aber seine Anweisungen wurden durch die Serviette gedämpft, die er sich um Mund und Nase gebunden hatte, so daß Latimer ihn nicht verstehen konnte. Er starrte hilflos zu meinen Eltern hinunter, und der immer dichter und schwärzer werdende Rauch wurde schwallweise über sein Gesicht ausgestoßen, während er halsbrecherisch an den Bleiplatten des Daches hing. In der bitteren Kälte des nächsten Morgens erzählte er mir: »Ich sah, wie sie starben, Mr. Robert. Ich hätte alles, was ich in meinem Leben je verdient habe, dafür gegeben, sie zu retten, aber ich konnte es nicht.«
Viele Leute kamen zum Begräbnis meiner Eltern. Lady Newcastle, für die mein Vater Augenklappen aus Maulwurfsfell gefertigt hatte, kam in einer schwarzen Kutsche, die von Pferden gezogen wurde, die mit schwarzen Federn geschmückt waren. Der König hatte zwei Kammerherren entsandt. Amos Treefeller, der nun in seiner zweiten Kindheit war, ließ sich in einer gemieteten Sänfte zur Grabstätte bringen, wo er zu plärren anfing. Der Januarwind nahm die Gebete auf und trug sie von dannen, bis sie verstummten.
Am folgenden Tag wurde ich wieder nach Whitehall zitiert.
Der Tod meiner lieben Eltern brachte nicht nur vorübergehend mein Verlangen nach Frauen zum Erliegen, sondern machte meinem Anatomen-Gehirn auch auf eindringliche
Art deutlich, wie schnell es gehen konnte, daß sich der Körper dem Tod unterwerfen mußte. An sich bin ich nicht zartbesaitet. In Padua, wo Leichen während der Sommermonate knapp waren, hatte Fabricius einmal eine Anatomiestunde mit dem Körper eines Almosenempfängers abgehalten, der drei Tage lang im Fluß getrieben hatte. Die deutschen Studenten, die dafür berüchtigt waren, daß sie immer störten und sich ungehörig benahmen, fluchten und erbrachen sich überall um mich herum. Ich jedoch blieb ruhig und gelassen und machte mir Notizen. Jetzt jedoch, nach dem Tod meiner Eltern, betrachtete ich meinen eigenen Körper, auf den ich noch nie besonders stolz gewesen war, auf einmal mit Widerwillen, Abneigung und Furcht. Und diese Furcht war es, der ich durch die unergründlichen Wege des Schicksals die Ehre verdankte, die mir nun erwiesen werden sollte. Meine Angst vor dem Tod hatte meine Angst vor der Macht verringert, wenn nicht gar schwinden lassen. Daher schüchterte mich jetzt, als ich nach Whitehall zitiert wurde, der Gedanke, Seiner Majestät gegenüberzutreten, nicht mehr ein, und so verhielt ich mich nicht wieder wie ein auf den Mund gefallener Idiot. Mein armer Vater wäre wirklich sehr erfreut gewesen, wenn er gesehen hätte, wie ich mich benehmen konnte.
Der König empfing mich in seinem Salon. Er sprach des längeren und höchst schmeichelhaft von der Tüchtigkeit meines Vaters. Dann kam er auf seine Theorie zurück, daß kein Mensch zu hoch hinauswollen, sondern seine Fähigkeiten und seine Stellung kennen sollte. Ich nickte und
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