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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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und vom verspäteten Kummer über den Tod meiner Eltern sofort in Schlaf sank.
    Ich muß wohl sieben Stunden geschlafen haben. Als ich aufwachte, war es draußen dunkel, doch in meinem Zimmer brannten Kerzen, und auf dem Bordeaux-Tisch stand eine Mahlzeit aus gebratenem Rebhuhn und gedünstetem Blattsalat. Hatten die Diener versucht, mich zu wecken? Wenn ja, dann hatten sie dem König wohl berichten müssen, daß der Arzt Merivel volltrunken, mit der Nachtmütze über den Augen, im tiefen Schlafe dalag. Ich stöhnte auf. Ich war zum zweiten Mal nahe daran gewesen, mein Glück zu machen, und hatte wieder die Gunst der Stunde nicht genutzt.
    Ich stand auf; noch immer war ich unsicher auf den Beinen. Ich ging hinüber zum Feuer, das nicht ausgegangen war, da die unsichtbaren Diener neue Scheite aufgelegt hatten,
und kniete dort nieder. Ich streichelte der armen Lou-Lou über den Kopf. Zu meiner Überraschung öffnete sie ein feuchtes braunes Auge und sah mich an. Ich beugte mich vor und lauschte auf ihren Atem. Das Rasseln hatte nachgelassen. Ich sah ihr ins Maul. Die Mundhöhle war trocken und die Zunge geschwollen. Ich holte von meinem Waschstand Wasser und flößte ihr mit einem Löffel ein wenig davon ein. Sie schleckte es mit einem für einen kranken Spaniel erstaunlichen Eifer. Es ist gerade so, sagte ich mir, als ob das Abführen und Erbrechen, dem Lou-Lou unterzogen worden war, ihrem Körper die lebensnotwendige Feuchtigkeit entzogen hat. Und als ich das erkannt hatte, wußte ich plötzlich, daß meine Chance, den Hund zu heilen, jetzt wahrscheinlich größer war als bei meinem Eintreffen vor acht Stunden. Es konnte sogar sein, daß gerade meine Vernachlässigung der Schlüssel zu seiner Genesung werden würde. Denn während ich geschlafen hatte, war er sich selbst überlassen gewesen, möglicherweise zum ersten Mal seit mehreren Tagen und Nächten, so daß die Natur eine Chance gehabt hatte, sich selbst zu helfen.
    » Studenti! « pflegte Fabricius mit Donnerhall zu brüllen, wobei seine Stimme wie Gotteswort von den Rängen seines primitiven Anatomie-Theaters als Echo zurückgeworfen wurde. » Non dimenticare la natura! Vergeßt die Natur nicht! Denn die Natur ist ein besserer Arzt, als irgendeiner von euch – und das gilt besonders für euch laute Deutsche – wahrscheinlich jemals werden wird!«
    Die darauffolgenden siebzehn Stunden wachte ich über Lou-Lou. Ich sandte nach Alkohol, um die Furunkel und Verletzungen vor dem Verbinden zu desinfizieren, aber ansonsten ließ ich den Hund in Ruhe und gab ihm nur Wasser. Als das Fieber nachließ, fütterte ich ihn mit Rebhuhnstück
chen, die ich in meinem eigenen Mund zu Brei zerkaut hatte. Am nächsten Abend, als mir eine Mahlzeit aus Perlhuhn, Rahm und Radieschen gebracht wurde, war ich schon voller Zuversicht, daß er nicht sterben würde. Und ich behielt recht. Vier Tage später trug ich den Hund zum Schlafgemach des Königs und setzte ihn seinem Herrn auf den königlichen Schoß, wo er verzückt stand und mit dem Schwanz wedelte.
     
    5. Der fünfte Anfang ist der seltsamste, der am wenigsten erwartete und der bedeutungsvollste. Ohne ihn hätte die Geschichte, in der ich mich befinde, einen ganz anderen Verlauf genommen.
    Ich will ihn mit angemessener Kürze erzählen. (Im Gegensatz zu Pearce gelingt es mir gewöhnlich, rasch zum point einer Geschichte zu kommen, während seine Erzählungen so mit schwermütigen, metaphysischen Betrachtungen gespickt sind, daß seine Zuhörer Gefahr laufen, den roten Faden zu verlieren, bevor er auch nur begonnen hat.) Das ist also der Anfang:
    Ich brach mein Studium am Königlichen College ab und gab mein Zimmer in Ludgate auf. Mir wurden im Palast zwei hübsche Räume zugewiesen, denen nur – leider – die Aussicht auf den Fluß fehlte, der auf mich mit seinem munteren Treiben, seiner Unstetigkeit und seinem wechselnden Licht eine starke Faszination ausübte. Meine Pflichten waren wie folgt festgelegt: »Die Sorge um das tägliche Wohlergehen der achtzehn königlichen Hunde, die das Recht und die Pflicht einschließt, sie, wenn nötig, Operationen zu unterziehen, ihnen Heilmittel gegen Krankheiten zu verschreiben und alles in meiner Macht Stehende zu tun, um die Fortdauer ihres Lebens zu sichern.« Dafür sollte mir ein Gehalt von einhundert Pfund
pro Jahr gezahlt werden. Dies, zusammen mit den zweihundertsiebenunddreißig Pfund aus dem Nachlaß meiner Eltern, die ich glücklicherweise unbeschadet in ihrem feuchten

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