Zeit der Skorpione: Laura Gottberg ermittelt (German Edition)
Wirklichkeitsverlust der Patienten seines Vaters war deshalb ein ständiger Begleiter von Paolos Kindheit und Jugend gewesen. Ihre Psychosen lieferten den Gesprächsstoff bei nahezu jeder Familienmahlzeit, zumal auch seine Mutter in der Praxis arbeitete und die Krankengeschichten nach den Notizen des Vaters aufschrieb.
Unter anderem deshalb war Massimo Banker geworden, hatte einen Beruf ergriffen, der sich mit konkreten Zahlen, Tatsachen, etwas Fassbarem auseinandersetzte. Nur hatte sich auch das inzwischen als Illusion herausgestellt. Der Umgang mit Geld und Wertpapieren hatte mit Realitätsverlust schon lange mehr zu tun als mit etwas Fassbarem, war virtuell geworden. Niemand konnte sich die Milliarden und Billionen vorstellen, die unablässig über den Globus verschoben wurden. Eine wabernde Masse von Krediten, Anleihen, Aktiengewinnen, Garantien, Schulden, Leerverkäufen, Geldwäschen, die häufig von den Rechnern ganz ohne menschliches Zutun in Bewegung gesetzt wurden.
Mehr als einmal hatte Massimo erlebt, dass Kollegen, die glaubten, Kontrolle über solches Geschehen ausüben zu können, regelrecht wahnhaft reagierten, wenn sie den Überblick verloren und ihre vermeintlich sicher eingefädelten Geschäfte über ihnen zusammenschlugen wie eine Sturmflut.
Paolo Massimo wusste, dass manche Menschen eine Situation wie die, in der er gerade war, in ihrer Phantasie erlebten. Sie sahen Polizisten, Ärzte, Freunde oder Fremde, obwohl diese gar nicht existierten. Sie hörten Phantome sprechen, wurden von ihnen berührt, manchmal auch angegriffen oder verfolgt. Paranoia nannte man das.
Er war sich indes darüber im Klaren, dass dieser Begriff nicht auf ihn selbst zutraf, dass er tatsächlich gerade mit Polizisten durch seinen Park ging. Diese Polizisten beleuchteten den Weg vor ihm mit großen Taschenlampen. Als Massimo einmal stolperte, stützte ihn der Carabiniere zu seiner Rechten.
«Grazie», sagte Massimo.
Man hatte ihm keine Handschellen angelegt, obwohl ihm das vielleicht dabei geholfen hätte, die Wirklichkeit als solche wahrzunehmen. Vielleicht auch nicht. Er wusste eigentlich gar nichts mehr, nur, dass er vor dem Eintreffen seines Anwalts keinerlei Aussagen machen würde.
Realitätsverlust konnte auch dazu führen, dass Menschen sich nicht mehr an ihre eigenen Handlungen erinnerten. Seltsam, wie selbst Einzelheiten der Tischgespräche seiner Eltern in seinem Gedächtnis haften geblieben waren. Bisher hatte er nur selten darüber nachgedacht, jetzt machte ihm dieses unbewusste Wissen Angst, das auf einmal an die Oberfläche drängte.
Wieder stolperte er, wieder griff der junge Carabiniere nach seinem Arm, und Massimo murmelte erneut einen Dank.
Sie schienen angekommen zu sein, denn Commissario und Staatsanwalt blieben stehen.
«Bringt ihn her!», rief der Commissario über die rotweißen Plastikbänder zu den Polizisten hinüber, die unter den Olivenbäumen mit etwas beschäftigt waren, das Massimo nicht erkennen konnte. Der Commissario hatte von dem Toten gesprochen. Es musste sich also um einen Mann handeln. Massimo versuchte sich zu erinnern, sich vorzustellen, ob es derzeit in seinem Leben einen Mann geben könnte, den er aus dem Weg schaffen wollte.
In der Vergangenheit hatte es einige solcher Momente gegeben, in denen er sich das Verschwinden eines Widersachers gewünscht hatte, auch dessen Tod. Er hatte sich sogar Methoden ausgedacht für einen perfekten, unnachweisbaren Mord. Zum Beispiel konnte man einen anderen betrunken machen und in einer kalten Nacht draußen schlafen lassen, dazu reichten Temperaturen um null Grad. Es war ein sanfter Tod, wenn man an Unterkühlung starb, ein Unglücksfall, ein perfekter Mord.
Bisher hatte er seine Konkurrenten ohne solch endgültige Lösungen aus dem Feld schlagen können. Es gab andere Möglichkeiten: die Durchleuchtung ihres Privatlebens, ihrer geheimen Konten, die Aufdeckung ihrer Steuerfluchten, ihrer riskanten Geschäfte oder ihrer Verbindungen zur Mafia.
Vier Gestalten in weißen Schutzanzügen kamen jetzt langsam auf Massimo zu. Sie trugen eine Bahre und glichen im Schein der Lampen mittelalterlichen Kapuzenmännern, die einst die Verstorbenen zum Friedhof schleppten. Massimo wich einen Schritt zurück, doch da war wieder die Hand des Carabiniere, die ihn diesmal nicht stützte, sondern festhielt.
Die Kapuzenmänner blieben hinter der Absperrung stehen und setzten die Bahre ab. Ein Windstoß fuhr durch die Zweige der Olivenbäume und beugte die
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