Zeit der Skorpione: Laura Gottberg ermittelt (German Edition)
Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte Paolo Massimo, zog seine Schultern hoch und gleichzeitig den Jackenkragen. Er ging jetzt langsamer, setzte seine Schritte sorgsam. Der schmale Pfad unter den Steineichen und Esskastanien war glitschig nach dem Regen der letzten Tage. Noch immer fielen schwere Tropfen von den Ästen, einzeln meist, doch bei jedem Windstoß wie ein unerwarteter, prasselnder Schauer.
Kalte Schwaden stiegen, beinahe sichtbar, vom Waldboden auf und ließen den einsamen Wanderer frösteln. Die Sonne war bereits hinter dem Monte Amiata verschwunden, hatte zwischen den Bäumen grünliches Dämmerlicht zurückgelassen und die Wärme des Vorfrühlingstages mit sich genommen.
Paolo Massimo, völlig in Gedanken gefangen, nahm weder den Wald wahr noch die Landschaft, die sich hin und wieder zwischen den Bäumen auftat. Erst als er ausrutschte und der Länge nach hinschlug, kehrte er jäh in die Gegenwart zurück, als hätte ihm jemand einen Schlag ins Gesicht versetzt.
Ein paar Sekunden lang blieb er liegen, es fiel ihm schwer zu atmen, und er stellte verwirrt fest, dass er den Tränen nahe war.
Er hatte sich nicht verletzt, das war es nicht. Er empfand auch keine Schmerzen, nur den Schmerz des Schocks, die Erschütterung durch diesen unerwarteten Angriff. Ja, der Sturz hatte sich angefühlt wie ein Angriff, obwohl niemand ihn berührt oder gestoßen hatte.
Als er sich langsam wieder aufrichtete, mit einem Taschentuch die Erde von seinen Händen wischte, brannten seine Augen, und plötzlich erinnerte er sich an dieses Brennen. Als kleiner Junge hatte er es gespürt, wenn er vom Rad gefallen war, sich den Kopf gestoßen oder eine Ohrfeige bekommen hatte. Er hatte nie wirklich geweint, nur dieses Brennen gespürt und den salzigen Schleier wahrgenommen, der sich zwischen ihn und die Außenwelt legte.
Lächerlich, dachte er und schob den Erinnerungsfetzen beiseite, doch das Brennen blieb, wanderte von seinen Augen in seine Kehle hinab. Er schluckte ein paarmal, schüttelte den Kopf. Seine Hose war schlammbeschmiert, die Jacke ebenfalls, und dann stellte er fest, dass er viel zu weit gegangen war, mindestens eine Stunde würde er brauchen, um zum Haus zurückzukehren, wahrscheinlich länger.
Seine Schritte waren jetzt unsicher. Seine Knie fühlten sich anders an als vor dem Sturz. Weicher, zittrig. Normalerweise war er nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das konnte er sich nicht erlauben, nicht in seiner Stellung. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass es gefährlich sein konnte, im Wald herumzulaufen. Was, wenn er auf den Kopf gefallen wäre, auf einen Stein, eine harte Wurzel. Niemand würde ihn hier draußen finden, wenn er sich ein Bein bräche.
Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte er, ein zweites Mal. Drei Tage hatte er sich genommen, um in seinem Landhaus allein zu sein, ohne Familie, ohne Angestellte, ohne Personal. Erst gestern, am späten Nachmittag, war er angekommen. Seiner Sekretärin hatte er die Anweisung gegeben, nur in extrem wichtigen Fällen die Nummer des Mobiltelefons herauszugeben, das er sich speziell für solche Auszeiten angeschafft hatte. Sein rotes Telefon, hatte er es scherzhaft getauft.
Auf seine Wanderung hatte er es nicht mitgenommen, er wollte ungestört nachdenken. Jetzt empfand er diese Entscheidung als äußerst unklug. Nicht einmal Hilfe könnte er rufen, falls ihm etwas zustieß.
Vor Ablauf des dritten Tages würde man ihn nicht vermissen, nicht nach ihm suchen. Hatte er nicht deutlich gesagt, dass er keine Störung wünsche? Andererseits erschien es ihm sehr unwahrscheinlich, dass es in den nächsten zwei Tagen keinen einzigen extrem wichtigen Anruf geben würde. Und falls er einen solchen Anruf nicht entgegennähme, würde seine Sekretärin Antonella mit Sicherheit unruhig werden und nach ihm suchen lassen. Würde sie?
Er hatte keine Ahnung. Vielleicht auch nicht. Vielleicht respektierte sie seine Klausur, auf ihre bedingungslose Weise. Antonella war eine bedingungslose Assistentin, die Bezeichung Sekretärin war ihr nicht angemessen, denn sie besaß alle Qualitäten einer wirklichen Assistentin. Dafür bezahlte er sie auch verdammt gut, für Loyalität, Zuverlässigkeit, Verschwiegenheit, Organisationstalent und gutes Aussehen – für all das, was man als Vorstandsvorsitzender einer ziemlich großen Bank dringend brauchte.
Paolo Massimo fuhr zusammen, als rechts vom Weg etwas laut durchs Gebüsch brach, polternd, keuchend,
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