Zeit und Welt genug
Körper herab, seine Haut sah steinhart aus, seine Augen waren dunkel wie die Zeit. Seine Knie wankten, aber auch sie schienen mit Drähten gestützt zu sein. Josh lief zu ihm.
»Nicht mehr zögern, ich flehe dich an«, flüsterte Lon mit letzter Kraft. »Steig auf meinen Rücken. Zieh am rechten Draht, wenn es nach links, am linken wenn es nach rechts gehen soll.« Er richtete den Blick in die Ferne.
Josh trat hinter den Vampir. In ihrer Nähe rauchte und zischte die Leiche des Spähers in den Drähten. Josh griff nach Lons breiten Schultern, sprang auf seinen Rücken und wollte fragen: »Wie werden wir …« Aber sein Gewicht reichte aus, den Vampir über die Mauer zu kippen. Er bemerkte tief erschrocken, dass sie lautlos in die Nacht hineinglitten.
Sie schwebten lange Zeit in einer Höhe, wurden hochgehoben von Aufwinden, sanken ein wenig tiefer. Der Lärm der Stadt blieb rasch zurück, bis sie mit ihren Gedanken in der schwarzen Schönheit der Nacht allein waren. Josh ritt auf Lons Rücken, erfüllt von Liebe und Furcht, starrte hinaus auf das Land wie ein Königskind, getragen von seinem Lehrer. Er fragte sich kurz, ob er Ähnliches empfand wie Dicey bei Bal. Die Welt war zu sonderbar, als dass man sie hätte verstehen können.
Die Wüste tauchte nach einer Weile unter ihnen auf, denn sie waren nach Südwesten geflogen.
»Müssen wir nicht nach Norden, um dem Fluss bis zum Urwald zu folgen?« schrie Josh Lon ins Ohr, um das Rauschen des Windes zu übertönten. Er bekam keine Antwort. Josh schrie wieder, hörte auch diesmal nichts. Erschrocken zog er an dem Draht, der sich über Lons rechten Flügel spannte; der Flügel hob sich ein wenig, und sie beschrieben einen weiten Bogen nach links. Als sie nach Nordosten flogen, ließ Josh den Draht los. Sie flogen geradeaus. Er legte das Gesicht auf Lons Hinterkopf und weinte.
Mit der Zeit verloren sie an Höhe. Josh wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. In einem völlig unerwarteten Augenblick rutschten sie mit einem heftigen Stoß auf Lons Bauch über eine Wiese und kamen mit einem Ruck zum Stillstand. Josh wurde heruntergeschleudert. Er sprang sofort auf und lief zu seinem Freund. Lon lag regungslos am Boden, Flügel und Beine mit Draht gespreizt. Tot. Irgendwann im Flug, hoffte Josh. Lange kniete er stumm neben seinem toten Freund.
In der Ferne im Westen konnte Josh vereinzelt schwaches Geschrei aus der Stadt hören, das der auffrischende Wind vom Meer im Osten herübertrug. Er wusste, dass er fortmusste, aber seine Kraft war verbraucht wie ein Großteil seines Blutes und seiner Lebensgeister. Dicey tot und nun Lon. Das Leben verlor jeden Sinn.
Trotzdem ging er nach Nordosten. Nach einer Minute hörte er leises Rauschen. Dreißig Sekunden später stand er am Fluss. Dieser strömte ruhig dahin wie die Zeit, ungestört von den Millionen Fischen, die in den Tiefen lebten. Ein lebendes Wesen, dieser Fluss. Das Leben ging eben doch weiter.
Und das meine auch, dachte Josh. Rose war am Leben, es gab Ollie, Beauty und Jasmine. Und Josh.
Fern im Westen warfen unsichtbare Flammen einen orangeroten Schein über den Horizont. Josh ging nach Osten. Er war so erschöpft, dass er keine Meile würde durchhalten können, das wusste er. Er blieb stehen und dachte nach. Der Westwind fuhr durch seine Haare.
Er fasste einen Entschluss und ging zu Lons ausgestreckter Leiche zurück. Mit großer Mühe hob er einen Flügel hoch, trat darunter hindurch und wälzte Lon auf den Rücken. Dann zerrte er ihn mit letzter Anstrengung und vielen Pausen an den Haaren zum Fluss. Er blieb dort einige Minuten sitzen, um wieder ein wenig zu Kraft und Atem zu kommen, bemüht, nicht das Bewusstsein zu verlieren.
Als er glaubte, sich wieder bewegen zu können, ohne umzufallen, zerrte er Lons Beine ins Wasser. Dann löste er den Draht von einem Flügel, hob diesen hoch, bis er senkrecht in die Höhe stand, und befestigte ihn in dieser Stellung mit dem Draht. Er legte voll Traurigkeit den Mund auf Lons Lippen und blies Luft hinein, bis die Lunge des toten Vampirs voll gepumpt war. Bevor die Luft entweichen konnte, stopfte Josh Mund und Nasenlöcher des Vampirs mit Fluss-Schlamm zu. Dann setzte er sich auf Lons breiten Brustkorb und stieß sich ab in den Fluss.
Lons unberührter Flügel glitt wie ein flacher Schwimmkörper über das Wasser, die durch Luft aufgepumpte Brust hielt seinen Körper über der Oberfläche, obwohl Josh darauf saß.
Die Strömung lief nach Westen, aber der starke
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