Zeit und Welt genug
Mauer hinab.
»Du brauchst mehr.« Joshua untersuchte angstvoll die Wunden.
Lon blickte an seinem Arm hinunter und nickte grimmig.
»Meine Kraft verrinnt mit dem Blut. Ich brauche Zeit, um mich auszuruhen, aber wir haben keine.«
Sie sahen einander lange und verständnisvoll an, dann entblößte Josh dem Vampir seinen Hals. Lon riss den Verband von Joshuas Halswunde, stieß mit einem Ausdruck, der tiefe Qual und Verzweiflung verriet, die Elfenbeinzähne in Joshuas Fleisch und trank.
Josh hatte sich auf die unerträglichen Schmerzen vorbereitet, die er bei Bals Angriff erlebt hatte. Aber sie kamen nicht. Lons Zubiss war sengend aber zugleich köstlich. Josh fühlte sich geschwächt, als sein Blut abgesaugt wurde, aber gleichzeitig auch erhoben. Er fühlte sich entleert und genährt; er gab und nahm. In einer bestimmten Beziehung erschreckte ihn das mehr, als der Schmerz es vermocht hätte. Er legte die zitternde Hand auf Lons Hinterkopf und trieb die Zähne tiefer in sich hinein.
Lon löste sich gequält. Ein wenig gekräftigt, verband er Joshuas Hals, um die neue Blutung zu unterbinden. Joshua schwankte. Lon stützte ihn. Ihre Blicke trafen sich.
Einen Augenblick lang zuckten alle Lichter in der Stadt auf, flackerten und erloschen wieder. Hängende Drähte spieen Funken, wo Lon sie durchtrennt hatte. Die beiden Kameraden standen auf der Mauerkrone und hielten sich aneinander fest. In der nächsten Minute floss der Strom noch zweimal und fiel wieder aus. Im gleißenden Lichtschein zeigte Josh über die Stadt hinweg: Ein Vampirspäher schien die Mauer abzufliegen und nach Eindringlingen zu suchen.
»In weniger als einer Minute wird er hier sein«, sagte Lon dumpf.
Josh griff erschöpft nach seinen Waffen. Er wusste, dass weder er noch Lon Kraft für einen Kampf hatten; es stand im Zweifel, ob Lon überhaupt fliegen konnte. Bedrückt entdeckte er, dass er nur noch die Spritze hatte. Er suchte vergeblich Taschen und Gürtel ab – keine Messer, keine Skalpelle. In seinem Stiefel steckte aber noch ein Papierröhrchen. Er zog es heraus und schraubte fieberhaft die Kappe ab. Die Lichter der Stadt flammten auf und erloschen, immer wieder. Der Späher kam näher heran.
Inzwischen hatte Lon ein sieben Meter langes Stück Draht ergriffen, das er vorher abgetrennt und über die Mauer gehängt hatte. Er wurde mit jedem Augenblick schwächer; jede Anstrengung schien unendliche Mühe zu kosten. Er wickelte ein Drahtende um die Spitze seines rechten eingerollten Flügels, zog den Draht über den Rücken und wickelte ihn unter dem Arm um seinen Brustkorb, nachdem er ihn über zwei Knochenrippen in der Schwinge gespannt hatte. Der Draht diente als zusätzliche Spannsehne und spreizte die Flügel zu seiner voller Spannweite. In dieser Haltung blieb er. Lon rang nach Atem, zwang sich aber, weiterzumachen, fand ein zweites Drahtstück und brachte es am anderen Flügel an.
Der Späher bog in der Ferne um die Ecke und flog auf Josh und Lon zu. Plötzlich flammten die Lichter auf und brannten weiter. Wieder begannen die losen Drähte Funken zu sprühen. Der Späher sah die beiden Gestalten auf der Mauer und flog schneller.
Josh sah den Vampir rasch näher kommen und wusste, dass man sie entdeckt hatte. Er schraubte das andere Ende der Röhre ab, zog die handgeschriebenen Dokumente heraus und stopfte sie in seinen Gürtel. Dann riss er die Kanüle aus der Spritze, zog den Kolben heraus und stach die Nadel hinein, bis sie wie ein gefährlicher Stahldorn herausragte. Dann steckte er das Ganze in die Röhre, die nun an beiden Enden offen war, und hob sie an den Mund.
Der Vampir flog mit hoher Geschwindigkeit heran und hatte sie beinahe erreicht. Josh blies mit aller Kraft in das provisorische Blasrohr und jagte dem anfliegenden Angreifer die Nadel ins Gesicht. Sie traf diesen knapp unter dem Auge. Er stockte, verlor das Gleichgewicht, riss die Hand hoch. Sein Flügel kippte und berührte das elektrisch geladene Drahtgeflecht über der Stadt.
Der Vampir stürzte kreischend und knisternd in das Gitter: rauchendes Fleisch, hochsprühende, weißglühende Funken. Lon und Josh beobachteten von ihrem Platz aus das grausige Schauspiel.
»Im nächsten Augenblick wissen alle, dass wir hier sind«, sagte Lon. »Wir müssen fort.«
Josh drehte sich um und starrte ihn an. Die Flügel waren durch die Drähte straff gespannt, seine schwarzen Haare wehten wild vor dem Vollmond, der über seiner Schulter am Himmel hing, Blut rann an Arm und
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