Zeit und Welt genug
sagte er zu Rose. »Die Tiefe entzieht sich meinem Begreifen. Und ich weiß nicht, was es mich gelehrt hat. Lon hat mir dreimal das Leben gerettet – zweimal, nachdem er selbst schon tot war. Wie kann ich darüber hinwegkommen, dass ich das nie wieder gutzumachen vermag, dass ich ihm niemals danken kann? Muss ich diese Last ewig tragen?«
»Lon hat aus freiem Willen gehandelt«, sagte Jasmine. »Du schuldest ihm nichts. Die Last trägst du nur, wenn du das willst.«
Auch Joshua sann über den freien Willen nach. Er hatte diese Reise nach seinem Glauben aus freien Stücken angetreten, zu seinen eigenen Zwecken. Aber Gabriel hatte ihm erklärt, er sei von der Wellenmaschine in die Stadt gelockt worden. Das war natürlich Unsinn, die Behauptung der ENGEL – Josh wusste, dass er nur zu dem einen Zweck hergekommen war, seine Liebsten zu retten. Aber was davon war allein Joshuas Wille, wie viel wurde diktiert von äußerem Druck, dem Rache-Recht, dem elitären Gefühl der einzelnen Arten, und … Josh berührte den Drahtkorb, den er am Gürtel hängen hatte. Er konnte es nicht ergründen.
Trotzdem sah er Rose und Ollie liebevoll an und fühlte sich ein wenig getröstet. Es gab zwei gute Gründe für den Weg, den er eingeschlagen hatte. Wenn nur die anderen noch dabei sein und die leeren Schatten ausfüllen könnten, die sich aufgetan hatten.
»Und die arme, süße Isis«, sagte er laut. »Wir werden nie erfahren, ob sie umgekommen ist oder sich retten konnte.« Er schüttelte den Kopf. »Sie hatte immer solche Angst vor dem Wasser.«
»Ich bin sicher, dass Pelzgesicht entkommen ist«, meinte Beauty lächelnd. »Ihre Abneigung gegen Wasser war eine rein ästhetische. Sie konnte durchaus gut schwimmen.«
Sie lachten alle und tranken darauf, außer Josh, der traurig lächelte.
»Aber wissen werden wir es nie«, sagte er leise.
Jasmine berührte seine Hand.
»Das Leben ist manchmal so«, räumte sie ein. »Man kann nicht immer wissen.«
Beauty stimmte zu.
»Summina wusste, als ich sie am Waldrand zurückließ, auch nicht, ob wir je zurückkommen würden. Und sie hat doch gewartet.« Er sah Jasmine an. Ihre Blicke begegneten sich. Sie wussten beide, dass neben den anderen zahllosen Vieldeutigkeiten, die ihr Leben im Lauf der Jahre noch bringen würde, nichts vieldeutiger und unergründlicher sein würde als ihre kurze Vereinigung. Sie lächelten wissend. Auch das gehörte zu den Dingen, die sie nie ganz begreifen würden.
Joshuas Melancholie wurde noch stärker, weil es so viele Dinge gab, die er nie erfahren würde. Er würde mit Dicey nie ein Kind haben, nie den Sinn der Zeit erkennen, nie die machtvolle Zaubersprache der genetischen Ingenieure lernen, nie mit dem dicken, freundlichen Jungen aus der Bucherei sprechen können.
»Ich werde Lewis nie kennen lernen«, sagte er leise, und aus irgendeinem Grund schien das der schwerste Verlust zu sein.
Jasmine störte ihn aus seiner Versunkenheit auf.
»Ich habe ein Geschenk für dich, Joshua. Wass hat es für dich in unserem ersten Lager südlich der Festung hinterlassen. Ich holte es in der Nacht, als wir entkamen – ich lief nach Norden, für den Fall, dass wir verfolgt wurden. Als ich sah, dass wir ungefährdet waren, holte ich es und versteckte es im Dschungel, wo wir uns später trafen.« Sie hielt ihm ein Buch hin.
Joshua griff vorsichtig danach. Es war in Leder gebunden, der Einband trug die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, das Zeichen des Schreibers. Es war ein herrlicher Band.
Er schlug es auf. In breiten Schriftzügen stand dort der Titel: GESCHICHTE DER MENSCHLICHEN RASSE. Darunter, in Schrägschrift: ›Für die Nachwelt‹.
Er blätterte um. Über dem Text stand das Wort ›Prolog‹. Joshua las:
1 000 000 v. Chr.- A. D. 1960-Allgemeine progressive Entwicklung der menschlichen Art.
1961-Mutierte Viren entweichen bei militärischen Experimenten und breiten sich über die ganze Welt aus, was zunächst unmerkliche Veränderungen der menschlichen Persönlichkeit hervorruft.
1986-Atomreaktorunfall in Oceanspring. Jasmine wird geboren.
2006-Gipfelpunkt der Weltenergiekrise durch totalen Stromausfall.
Im Lauf der nächsten dreißig Jahre werden andere Energieformen entwickelt.
2010-Geklonte Pferde werden häufig.
Massenauswanderung nach Orbitalstationen oder zu Raumkolonien.
2020-Viele Menschen sterben an Krebserkrankungen, die durch radioaktive Strahlung ausgelöst wurden. Allgemeine Zunahme von Mutationsgeburten.
2030-Jasmine wird
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