Zeitfinsternis
Überlegungen und Plänen zuckten durch das Gehirn des Saarländers. Nichts davon half ihm nur im geringsten. Und die ganze Zeit galoppierten die Reiter näher auf ihn zu. Er konnte erkennen, daß es fünf waren: Ihre Umhänge wehten hinter ihnen her, und sie wirbelten Staubwolken auf, die sich erst lange, nachdem sie vorbeigerittten waren, wieder setzten.
Sollte er sich überhaupt nicht um sie kümmern und so tun, als hätte er sie nicht gesehen?
Konnte er wenigstens versuchen zu fliehen?
Wäre es am besten, wenn er sein Schwert ziehen und sich verteidigen würde?
Sir Guy zog an den Zügeln, und allmählich trabte Gilbert immer langsamer und blieb dann stehen. Schwerfällig reagierte er auf die Tritte seines Herrn und drehte sich herum. Hand am Schwertgriff. Trockene Lippen. Nasse Achselhöhlen. Versuche, einen lässigen Eindruck zu erwecken. Gleich würde er sich in die Hosen machen. Er beobachtete die Reiter, die immer näher kamen. Als sie sahen, daß er angehalten hatte, wurden sie etwas langsamer. Sie waren inzwischen nahe genug, daß der Ritter ihre Gesichter selbst in der Dämmerung erkennen konnte: grimmig, militärisch, gnadenlos. Guy befeuchtete seine Lippen, so gut es ging, um sich darauf vorzubereiten, sie anzurufen. Bevor er dazu kam, geschah es.
Eben noch trennten ihn nur ein paar Pferdelängen von den rachedurstigen Lothringern. Im nächsten Moment war er da, zwischen dem Ritter und seinen Verfolgern. Fast versperrte er die Sicht auf sie.
Der Drache.
Das war kein eingebildeter Drache aus den Märchen, von dem die Eltern ihren Kindern erzählen, sondern dieser hier war echt. Riesig groß war er, mit vier dicken Beinen, die seinen massiven grauen Leib trugen. Er hatte zwei lange, weiße Zähne, die von seinem Maul fast bis zum Boden reichten, und dazwischen ein schlangenförmiges Etwas, das aus dem entsetzlichen Gesicht des Ungeheuers wuchs.
Mit starren Augen verfolgte Sir Guy die Bewegungen des Drachen, dessen riesiger Kopf zuerst zu ihm, dann aber zu den fünf Reitern hinsah. Schließlich wandte er sich von ihm ganz ab, drehte sich um und setzte sich – zunächst langsam, dann mit wachsender Geschwindigkeit – gegen die Lothringer in Bewegung. Die Soldaten folgten dem Beispiel des Ungeheuers: Sie drehten sich um und rasten davon. Aus den Verfolgern waren Verfolgte geworden.
Unfähig, sich zu bewegen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, beobachtete der Saarländer die Szene ein paar Minuten lang. Schließlich, lange, nachdem er mit seinen Augen die Finsternis nicht mehr durchdringen konnte, schwenkte er Gilbert wieder herum und ritt weiter nach Westen. Zum ersten Mal, seit er seine Heimat hinter sich gelassen hatte, lächelte er.
Von Anfang an, so schien es ihm zumindest jetzt, hatte er den Verdacht gehabt, daß die schwarzen Teufel, die die Lothringer vernichtet hatten, von dem Zauberer Fell heraufbeschworen worden waren. Dann aber war etwas schiefgelaufen, und sie hatten sich gegen Attilas Streitmacht gerichtet. Wie sonst wäre es dem Zauberer möglich gewesen, sie davon abzuhalten, die Überlebenden umzubringen? Nun hatte er den Beweis für seinen Verdacht. Er hatte nie wirklich an den Drachen geglaubt, ebenso wenig wie er wirklich an die Existenz von Dämonen geglaubt hatte. So wie Fell die Riesen und Zwerge hatte erscheinen lassen, so hatte er auch den Drachen herbeigezaubert, um die Lothringer einzuschüchtern und davonzujagen. Das war offensichtlich und ganz einfach. Der König mußte dem Zauberer die Anweisung erteilt haben, Sir Guy seinen magischen Schutz zukommen zu lassen, damit er Attilas Befehl zügig und in Sicherheit ausführen konnte.
Sir Guy fragte sich jetzt, wie er jemals auch nur für einen Moment Zweifel an seiner Mission hatte haben können. Selbstverständlich hatte der König ihn nicht vergessen – und außerdem wußte er durch Fell genau, wo der junge Ritter war und was er machte. Er durfte seinen Herrscher nicht enttäuschen.
Er zog seine Schultern zurück und hob seinen Kopf, als er weiter durch die Nacht ritt. Er hoffte insgeheim, daß er für viele Meilen keine feindliche Drachen antreffen würde, und daß der, den er gerade gesehen hatte, sich ihm nicht später zu seinem Schutz anschließen würde.
Wenn er schläft, bleibt sein Geist oft in seinem Körper und reist nicht in die Zukunft. Nicht aber bei dieser besonderen Gelegenheit.
M ASCHINE braucht ihm nicht immer zu sagen, was geschehen ist, damit er die Nachricht aus der Zukunft in die
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