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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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rundgeschliffen und rau wie der Bimsstein, seit der Zeit der Salzschmuggler über viele Generationen hinweg hart geworden.
    Federico ging mit verlangsamten, weit ausholenden Schritten wie eine Katze in der Nacht. Zwanzig Meter über dem Meer flog er in das gekräuselte blaue Wasser, verschwand in einer Blüte aus weißem Schaum und schrie vor Glück, als er wieder auftauchte.
    Paolo dagegen hielt sich dicht an die Ränder des Pfads und machte kleine, am Boden haftende Schritte mit gummierten Klippenschuhen, die eng wie ein Mieder um den Fuß lagen, es war, als trüge man keine Schuhe. Unter der verschwitzten Sohle aus feinem, glitschigem Gummi spürte er den harten Stein glühen. Der Schweizer wäre niemals von dem natürlichen Sprungbrett gesprungen, auf das Federico geklettert war, stattdessen stieg er bis ganz nach unten in die Bucht hinab, wo die Wellen sich nicht brachen und die Felsen glatter waren. Von dort hüpften sogar Kinder ins Wasser. Nur Kinder. Paolo ließ sich rückwärts fallen, peitschte mit dem Rücken die Meeresoberfläche und ließ sie explodieren.
    Paolo und Federico schwammen aufeinander zu, aber sie sahen sich nicht an. Sie blickten in den Himmel, oder besser, hinauf zum östlichen Rand des Ciolo, wo die Büsche des Schopflavendels wogten. Von dort kam Arianna herunter. »Ich bin blind!«, schrie sie, mit den Händen fuchtelnd. Arianna hatte den Gang einer Filmdiva, die goldgelbe Badekappe, die sie auf dem Kopf trug, ließ ihre Gestalt noch schmaler erscheinen. Sie sprang von der Klippe, auf der sich die meisten Menschen drängten, und schwamm mit kräftigen Stößen auf die beiden Freunde zu. »Die Badekappe kommt!«, riefen sie ihr zu und schlugen mit den Händen aufs Wasser, so dass alle Schwimmer erschraken. Die drei schlossen sich zu einem Kreis zusammen, betrachteten einander, fanden sich wunderschön, nass wie sie waren, in ihrer Unbeholfenheit und ihrer Vertrautheit. Sie atmeten den Geruch der salzigen Gischt und des Schopflavendels zwischen den steilen Felszacken der Schlucht und dachten, dass sie noch nie zuvor so glücklich gewesen waren.
    Eine Frau in roten Sandalen und einem Pareo aus Musselin spazierte über den Gehweg des Viadukts, der eisernen Brücke, die die beiden Teile der Klippe verband, den südlichen und den nördlichen, die Ausläufer des adriatischen und des ionischen Meeres. Von dort oben genoss man die herrliche Aussicht, und die Frau, die die Augen gegen die Sonne zusammenkniff und sich auf sehnigen Beinen kerzengrade hielt, die Sonnenbrille auf der Stirn mit zwei Fingern festhaltend, versuchte die winzigen Punkte im Meer zu erkennen, zu denen Paolo, Federico und Arianna geworden waren.
    Als Arianna den Kopf hob, entdeckte sie in der kleinen Menge auf der Aussichtsplattform des Viadukts die Frau mit den roten Sandalen, die ihr mit der geöffneten Hand zuwinkte.
    »Mama!«, schrie sie, »komm runter, das Wasser ist ganz warm!«
    Mimi Orlando schüttelte den Kopf, und ihre Züge entspannten sich zu einem Lächeln, das von unten niemand ahnen konnte, dann drehte sie sich um, kehrte zum Kiosk am Rand der Klippe zurück, setzte sich auf die glatte Brüstung, wo einige Leute lagen, um sich zu sonnen, und wartete darauf, dass die drei wieder nach oben kamen. Sechzehn Jahre waren vergangen, seit Arianna in einem strengen Züricher Dezember geboren war.
    Ein ganzes Leben war das her, und doch war Mimi noch immer eine junge Frau, schön, gezeichnet von kleinen Falten auf der Stirn und zwei tiefen Grübchen um die Lippen; der eine oder andere hätte sie vielleicht für ein paar Jahre älter gehalten, aber die Haut an ihren Beinen war glatt und fest wie die eines unreifen
brunellone
, so nennt man die wilden Pflaumen im Salento. Die Männer, die vor dem hölzernen Bartresen standen, taten, als ließen sie den Blick über die dichten Hecken aus Feigenkakteen hinter der Brüstung schweifen, wo die ovalen grünen Scheiben sich wie ein Origami eine über die andere schoben und sonderbare Schattengebilde auf das Weiß der gekalkten Mauern warfen. Doch nur wenige nahmen das Naturschauspiel wahr, alle betrachteten eine auf der Mauer befestigte Statue aus Muskeln und Sehnen, alle betrachteten Mimi und ihre Pose, ihren gedrehten Hals mit den Falten, die den rechtwinkligen Linien der Sommersonne folgten, die übereinandergeschlagenen, von Schweiß feucht glänzenden Beine, die Gegenlichtaufnahme einer Erscheinung.
    Nach den zwei Jahren in der Schweiz war Mimi nach Tricase zurückgekehrt.

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