Zementfasern - Roman
alleingelassen. Aber Mimi hatte keine Angst vor dem Dunkel, die Schwärze der Nacht war ihr freundlich gesonnen, und endlich konnte sie ihre wahre Natur beweisen, lunatisch und störrisch, weil sie sich vor niemandem außer vor ihren eigenen Gespenstern rechtfertigen wollte. Sie weinte nicht in jener Nacht, sie zitterte unter Schaudern aus einer fernen Welt, die ihr aber so vertraut war, als hätte sie immer zu ihr gehört.
Die Erinnerung an jene Nacht im Pinienhain, an die salzige Luft, die vom Meer aufstieg wie Rauch, verdichtete sich in der Veranlagung, die sie jetzt retten würde.
»Mimi, ich bin’s«, sagte die Stimme in der Dunkelheit abermals. Doch Mimi fühlte sich angezogen von ihren Gespenstern, die aus der Nacht im Pinienhain und aus ihren einsamen Vormittagen zu ihr zurückkehrten, und sie glitt mit den weichen, lautlosen Bewegungen eines nächtlichen Beutetiers unter das Bett, wo sie sich vor der Stimme verkroch. Dort fühlte sie sich sicher und geschützt, während der Mann, der sich als Ippazio ausgab, mit der Hand über das leere, aber noch warme Bett strich. Mimi wusste, dass ihr Zufluchtsort sie nicht lange schützen würde: Wenn man in einer Höhle versteckt bleiben will, muss es eine Harmonie geben zwischen ihren Wänden und deinen Formen, zwischen ihrer Feuerstelle und deiner Seele. Mimi passte sich so gut wie möglich der Höhle an, machte sich klein, zwängte sich zwischen die Beine der Pritsche bis an die Wand. Sie spürte die eisernen Haken der Sprungfedern, die ihre Haut streiften und kratzten, aber sie durfte sich nicht bewegen, sie durfte nicht atmen, auch weinen durfte sie nicht, sie konnte nicht mehr tun, als die Lippen zusammenpressen, während die kalten Spitzen des Bettgestells sich in ihre Haut bohrten.
Sie hörte eine zweite Stimme.
»Giacomo, hier ist niemand.«
»Ippazios kleine Nutte war hier, sie muss noch da sein.«
»Komm, gehen wir, Governo hat die Leute draußen gerufen, ich hab’s gesehen.«
»Ich will die kleine Nutte. Giacomo Marra rührt keiner an. Diesen Gefallen bin ich Ippazio schuldig.«
Entsetzen und Adrenalin ließen Mimi erstarren. Ihre Gespenster würden sie noch eine Weile beschützen, solange bis Ippazio zurückkehrte, bis Ippazio sie rettete.
»Ich weiß, wo du bist, kleine Hure!«, und während er das sagte, warf der Junge sich mit aller Kraft aufs Bett, um den Federrahmen zu beschweren, das Bett gab nach, krümmte sich wie ein Bauch und bildete einen vollendeten Bogen, Mimi fühlte, wie ihre Haut von den Spitzen der Sprungfedern durchbohrt wurde, doch dann gelang es ihr, sich der mit Haken gespickten Welle des Bettes anzupassen, die richtige Haltung einzunehmen, sie biss die Zähne zusammen, Tränen stiegen ihr in die Augen. Giacomo fing an, sich auf der Matratze zu bewegen, und er schrie, als wäre er betrunken: »Hier ist sie, die kleine Nutte, hier ist sie!«
Während er noch brüllte, erhoben sich von überallher Geräusche, ein Gepolter von Keksdosen und Blechnäpfen, das Licht vieler Taschenlampen streifte vibrierend durch die Luft. Schlagartig war das Gewicht auf Mimis Rücken verschwunden, man hörte ein Röcheln, dann den wirren Lärm eines Handgemenges, Knochen knackten, Münder wurden gestopft, Körper über den Boden geschleift, und in dem Spalt, auf den Mimi starrte, bewegten sich die Lichter. Sie erinnerten Mimi an das Leuchten eines Fackelzugs während der winterlichen Prozessionen, wenn der Tramontana an den Flammen zerrt und ein erdbebengeschüttelter Widerschein die Gesichter der Gläubigen erhellt.
Dann verebbten die Geräusche, und das Dunkel kehrte zurück. Die Nacht schälte sich heraus, das Bett wurde wieder kalt, und kalt war der Fußboden, auf den Mimi sich stützte, um mit gespitzten Ohren die Stimme zu vernehmen, die aus dem Mittelpunkt der Erde kam. Sie war sicher: Es war die Stimme der Mütter, die Stimme der Vorfahren, die ihr die Rettung zum Geschenk gemacht hatten.
1993
Salz
»Die Klippe ist nichts für den modernen Menschen.« Das dachte Federico, als er auf der weißen Brüstung des Ciolo stand, der gewaltigen, steil abfallenden Schlucht, die sich bei Leuca tief in die Adriaküste einschneidet. Der Ciolo ist ein hohes, schmales Kliff aus grauem Stein, umrahmt von spitzen Felszacken und Feigenkakteen.
Federico stieg über den glühend heißen Klippenpfad aus trockenen scharfkantigen Steinen hinunter zum Meer, aber er war barfuß. Federico stammte aus Corsano, dem Ort der »carcagni tusti«, der zähen Fersen,
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