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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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was schlimmer ist.«
    Ippazio und der Vope sahen sich an. Niemand griff ein, niemand schien gehört zu haben, was Governo zu Antonio gesagt hatte. Dann wandte Governo sich an sie.
    »Ihr seid jung, diese Dinge versteht ihr nicht, aber wenn hier jemand den Schwächling spielt, gehen wir alle ohne Lohn nach Hause. Habt ihr das kapiert?«
    »Du bist der Schwächling«, sagte Antonio, und er wusste selbst nicht, wie er auf diesen Satz gekommen war.
    »Antonio, wie nennst du mich?«
    Antonio blieb stumm.
    »Antonio, ich rede mit dir, sag nochmal, wie du mich genannt hast, einen Schwächling? Was redest du für einen Scheiß? Keiner nennt mich einen Schwächling, damit das klar ist.«
    Governo holte zu einem Schlag gegen die Wand aus, und sein Arm fuhr über Antonios Kopf hinweg. Er hätte ihn getroffen, wenn Antonio gestanden hätte.
    »Antonio, du bist alt und hast noch immer nicht begriffen, wie die Dinge laufen? Arbeite und halt den Mund.«
    Antonio Orlando wandte seinen ganzen restlichen Vorrat an Geduld auf und seufzte, er hätte sich gern die tropfende Nase abgewischt, der Hustenreiz stieg ihm in den Hals, aber er versuchte mit aller Kraft, ihn zu unterdrücken.
    »Und ihr, ihr seid doch auch aus Lecce wie der da, helft ihr ihm, bis er wieder gesund ist?«, fragte Governo, an Ippazio und den Vope gewandt.
    Sie schwiegen.
    »Also keiner von euch beiden?«
    »Ich komm morgen früher und schleppe die Säcke.«
    »Um sieben.«
    »Von mir aus um sechs.«
    »Um sechs schlafen wir noch, Dummkopf. Du bist wirklich ein … wie sagt man bei euch,
vagnune
, Bübchen?«
    »Wir sind keine Bübchen, wir sind Männer«, sagte Antonio, während er sich vor Governo aufrichtete.
    Das Licht erlosch, und alle gingen hinaus. Der, der gesprochen hatte und am nächsten Tag die Säcke schleppen würde, war der Vope.
    Ippazio hatte kein Wort gesagt.

Was in der letzten Nacht geschah, bevor die Orlando die Glashütte verließen, ist an einen verlassenen, abgelegenen Ort verbannt, einen Ort zwischen Traum und Trugbild, der mit den nebelhaften Konturen der Bilder im Halbschlaf beginnt und in einem von Albträumen schweißgetränkten Bettlaken endet. Der Schlafsaal war mittlerweile leer, die Glashütte kurz davor, für immer geräumt und dem Erdboden gleichgemacht zu werden, um Platz für eine Wohnanlage zu schaffen. Sehr wenige waren noch geblieben. Ippazio war da, das Einzige, was für Mimi zählte. Ihre Lieben schliefen wieder tief wie zuvor, Ippazio hatte sie nie gesagt, warum sie nicht mehr zu ihm ging. Von dem unvergesslichen Kuss war das Gefühl geblieben, das sie empfunden hatte, kurz bevor sie ihre Lippen auf seine legte. Die Freude einer Vorahnung.
    Im Rhythmus einer Vorahnung tanzte Mimi jetzt bis zu dem Bett, wo Ippazio schlief, aber er war nicht da. Wo war er? Im Waschraum vielleicht, doch dort würde er seine Nymphe mit den Streichhölzern nicht finden, denn die Nymphe war hier … Mimi überlegte nicht lange, was sie tun sollte, sie schlüpfte unter die Decke.
    Wenige Minuten nur vergingen, doch sie schienen endlos, auch ein Gefühl der Angst stellte sich ein, das sofort verflog, als sie Schritte am Kopfende des Bettes hörte. Mimi riss die Augen auf, doch das Dunkel zeigte ihr nur den Schatten eines Mannes, einen Schatten, der Ippazio sein konnte, sie war nicht sicher.
    »Ippazio?«, flüsterte sie mit zitternder Stimme, vor Sehnsucht, aber auch vor Schreck bebend.
    »Ich bin’s.« Aber es war nicht seine Stimme, sie konnte von jedem stammen, von einer Frau, einem alten Mann, einem Toten.
    »Ippazio, bist du das?«
    »Ich bin’s, Liebling.« Als sie das Wort ›Liebling‹ hörte, spürte sie die spitzen Fangzähne einer Falle in ihrem Fleisch.
    Wenige Sekunden vergingen, eine Zeit, die eben ausreichte, das Wort ›Überleben‹ mit einem Impuls zu verbinden, mehr nicht, kein Beweggrund, kein Gedanke, kein Abwägen des eigenen Handelns, nur der Abgrund, der sich in den wilden Tieren verbirgt, Mimis Wesen. Als sie klein war, hatte der Vater sie eines Nachts in einen Pinienhain am Meer gebracht, damit sie ihre Angst vor der Dunkelheit besiegte: Tagsüber war das ein einladender Ort, erfüllt von den Melodien der Zikaden, nachts wurde er unwirtlich, das Mondlicht durchquerte ihn mit schräg fallenden Blitzen, und sein Schimmer drang durch die Spalten der felsigen Hügel, die im Meer endeten. Die Pinien wurden durch sein Licht verlängert und in flüchtige Geister verwandelt. Der Vater hatte sie nur etwa zehn Minuten

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