Zementfasern - Roman
unten am Boden vor der Fabrik stand, konnte hören, dass auf dem Dach eine Auseinandersetzung stattfand. Mit besorgter, aber auch beleidigter Miene brach Frassino das Gespräch ab und verschwand auf den Stufen, die nach unten führten.
Ihr ganzes Leben lang hatte Mimi sich unter Betten oder unter Bänke geflüchtet, sie hatte immer geglaubt, das sei der richtige Unterschlupf, um den seligen Frieden der Vorfahren zu spüren, weil man ihn nur an sicheren Orten fühlt, wo man frei atmet und beruhigt die Augen schließen kann. Immer hatte sie unter einem Bett, unter einer Bank, unter einem Tisch Schutz vor etwas Bösem gefunden. Immer hatte sie von den toten Seelen, denen sie zu trinken gab, Rettung erfahren, denn ihr Heimatboden besteht aus guten Geistern, sie verwandeln sich in Fossilien und Steine, sie suchen einander und fügen sich zu Megalithen und
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zusammen, ihren Ursprüngen zu Ehren.
Doch jetzt fühlte Mimi, dass die Regeln sich verändert hatten: Jetzt musste sie auf ein Dach steigen, auf das »ternitti« der Fabrik, um gegen den unsichtbaren Feind eines ganzen Lebens zu kämpfen.
Als sie dort oben, in kratzende Wolldecken gewickelt, einfache Speisen aß und ihre Notdurft in Chemiebeuteln verrichtete, hatte sie verstanden, dass dies ihr Platz war. Nicht von einem Dach beschützt, sondern auf einem Dach, im direkten Kontakt mit dem Himmel. Der Himmel aber war in jenen Tagen ein böser Himmel, aschgrau und düster, er spendete nicht einmal den Trost des Regens. Die Felder starben, die Wälder waren ohne Tau, und ihnen fehlte der Duft der Pilze, die normalerweise in den Herbsttagen den Waldboden sprenkelten. Fern waren der Sommer, die Wärme der Küste, die Feuer von San Vito über dem Meer von Tricase Porto, der magische Schatten der roten Villen des Salento und die mit Lichtern bestickten Hügel.
Der Sommer war vergangen, aber er hatte Ippazio gequält.
Es war keiner jener Sommer mehr, in denen das Meer kräftigt, dieser feine Salzschleier in der Luft, der die Haut zwickt, dich aber dann aufleben lässt wie ein vom Himmel fallender fruchtbarer Schlamm. Im Lauf der Jahre hatten sich Ippazios Sommer verändert, die Hitze war wie eine Folter, der Durst, der Juckreiz waren Vorboten eines Höllenfeuers, das aus dem Untergrund kam. Patis Haut war nicht mehr dunkel, lehmfarben, sondern blass wie der Sand am Strand. In seinen tiefen Augenhöhlen las man die Jahre in der Ternitti. Das Institut für medizinische Forschung hatte prognostiziert, dass die italienischen Matrosen, Fabrikarbeiter und Bergleute, die zwischen dem Ende der sechziger und dem Beginn der achtziger Jahre mit Asbest und Chrysotil zu Tisch gesessen hatten, bis zum Jahr 2015 erkranken würden.
Pati hatte wirklich geglaubt, er sei noch einmal davongekommen. Er fühlte, dass er ganz kurz vor der Rettung gewesen war, aber dann hatte er doch nicht genug Zeit gehabt, der Husten mit teerartigem Auswurf kündigte an, dass die Krankheit auch ihn eingeholt hatte.
Er war zurückgekehrt, um für immer in seiner Heimat zu leben, und hatte sich in Novaglie niedergelassen, an einem Ort, wo das Meer eine Bucht bildete, hier war das Wasser still und klar, es roch nach Torf, und im Herbst schwammen Lavendelzweige und wilde Beeren auf dem Wasserspiegel der Bucht. An manchen Tagen ging er nicht einmal in den Ort, die Stadtgeräusche und das Glockengeläut, das in Italien nie aufhört, bedrückten ihn; er fing Krebse und Anglerfische und röstete sie an Stöcken wie ein Gefangener auf der Flucht (und er empfand diesen Zustand als den einzigen, den er mit Würde tragen konnte). In seinem primitiven Lebensstil erkannte er einen präzisen Sinn: Buße.
Oft dachte er über den Tag nach, den er auf einer Luftmatratze zwischen den Wellen verbracht hatte, mit Mimi, der Frau, die ihm eine letzte Möglichkeit der Wiedergutmachung geben wollte, er sollte Mut zeigen. In seiner Liebesgeschichte hatte er nie welchen gehabt, bei tausend anderen Gelegenheiten hatte er ihn bewiesen, denn auch versunken in Stille und Einsamkeit am Meer zu leben, erfordert Leidenschaft und Mut. Doch was Mimi betraf, ja, das stimmte, da war er ein Feigling. Nicht wenige Einwohner von Novaglie hatten sich verpflichtet gefühlt, ihm etwas über seine erste Freundin zu erzählen: »Pati, hör auf mich, du hast Glück gehabt, dass du die Finger von ihr gelassen hast«, das war die Quintessenz der Botschaft, die von Mund zu Mund ging. Gemeint war die Behandlung, die Mimis Männer wegen des Charakters
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