Zementfasern - Roman
stieg er ein, verletzte sich vielleicht, um keine Zeit zu verlieren, um es sich nicht anders zu überlegen, das Geräusch auf dem Schotter war ein makabres Sistrum, ein Quietschen über die ganze Schnellstraße hinweg. Aus dem Seegras auf den Klippen flogen die Wasserreiher auf. Arianna konnte es nicht glauben, er war geflohen, ihr Vater war für einen sehr kurzen Moment erschienen, und jetzt war er nicht mehr da.
Mimi lief mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, drückte sie im Dunkel an sich, von draußen gesehen verschmolzen die beiden Haarschöpfe beim Aufeinandertreffen zu einem wirren Flaum. In einer bitteren Stille, der Kloß im Hals war erstickend groß wie ein Apfel.
Ariannas fahles Gesicht glich einer abgenutzten Maske, sie wand sich aus der Umarmung und fragte, ein steifes sarkastisches Grinsen im Gesicht: »Spielen wir noch eine Partie Tischfußball, bevor wir nach Hause gehen?«
»Du und ich?«, rief Mimi aus, verblüfft mit dem Finger auf sich zeigend, als wollte sie fragen, ob Arianna sicher sei, was sie da eben gesagt hatte.
»Ich und du.«
Biagino kam mit der Flasche Negroamaro auf die beiden Frauen zu. Arianna schüttelte ablehnend den Kopf, verschränkte die Arme und suchte mit Blicken nach dem Tischfußball, damit sie ihren Onkel nicht ansehen musste.
»Und du Mimi, trinkst du mal was mit deinem Bruder?«
Mimi ging wie durch ein dunkles Zimmer in tiefer Nacht, auf Zehenspitzen, um niemanden aus dem Schlaf zu reißen. Sie blieb vor ihrem Bruder stehen, der den abgebrochenen Korken mit einer Gabel herauszureißen versuchte. Wieder brach ein Stück ab, er drückte den Korken in die Flasche.
»Ein Wunder, er ist nicht zerkrümelt.«
»Ist der Wein noch gut?«, erkundigte sich Mimi.
»Ist gut«, antwortete Biagio, der ihn schon probiert hatte, mit einem einzigen kräftigen Schluck hatte er den Inhalt eines Glases hinuntergekippt. Seine Zähne waren nun rosa geädert, der Mund ein rubinroter Spalt. Er wollte noch eine seiner sattsam bekannten Überlegungen hinzufügen, doch schon hatte Mimi ihm den Hals der Flasche aus der Hand gerissen. Erfreut und staunend ließ Biagino sich den Wein wegnehmen, er begriff, dass seine Schwester es nicht getan hatte, um mit ihm zu schimpfen, sondern um den Wein zu trinken. Sie strich ihre Haare zurück, blickte sich nach allen Seiten um, als würde sie ein kleines Verbrechen begehen, und nahm einen Schluck, benetzte sich die Lippen, die sich schwarz färbten wie Baumrinde. Sie hielt die Flasche von sich weg, um das Etikett zu betrachten, dann führte sie es nah an ihre Augen: »Scheint gut zu sein, hast recht, Biagino«, sagte sie mit der stärksten dialektalen Färbung, über die sie verfügte. Darauf drehte sie die Flasche um und gehorchte dem Befehl eines unbeherrschbaren Bereichs in ihrem Inneren. Er befahl ihr, sich auszusetzen. Ihren Geistern und ihren Heiligen ausgesetzt zu bleiben.
Arianna beobachtete sie von weitem, sie saß mit abwesendem Blick auf einem Stein, innerlich aber brannte sie bis zu den Fußspitzen darauf, beim Tischfußball die wilde Wut auszutoben, die in ihr aufstieg. Sie erhob sich, ging zu Mimi, nahm ihrer überraschten Mutter die Flasche aus der Hand, und goss den Wein auf den Boden, auf die Erde eines von Feldblumen übersäten wilden Gartens.
Biagino starrte sie bestürzt an. Mimi antwortete ihrem geliebten Bruder.
»Sie gibt auch ihnen zu trinken.«
»Wem ihnen?«
»Denen, die dort unten sind, Biagino.«
»Ich weiß nicht, wer da unten ist.«
»Die Toten.«
»Die Toten?«
»Sie gibt den toten Seelen zu trinken, sie werden ihr dankbar sein.«
2011
Die Pest
Mimi hatte sich den Kragen bis zu den Ohren hochgeschlagen wie ein Kind. Der Maestrale war zu einem beißend scharfen Schirokko geworden, und über den Himmel zog ein finsteres Gewölk. Sie stand auf dem Dach, um ihren Finger drehte sie den türkisfarbenen Ring, den der geheimnisvolle Musikant ihr geschenkt hatte, als sie ein kleines Mädchen war. Ein paar Tage bevor die Protestaktionen begannen, hatte sie ihn in einer Lindenholztruhe gefunden. Nun trug sie den Ring mit dem deutlichen Gefühl, ein Amulett am Körper zu haben, einen kostbaren, außergewöhnlichen Gegenstand, von dem man Zaubereien verlangen konnte.
Die Krawattenfabrik mit ihrer großen Werkshalle lag dort, wo die Schnellstraße zum Meer hinunterführte. Weiter im Landesinneren verschanzte sich das Städtchen Tricase auf dem Tuffsteinhügel, der nach Osten blickte. Vom Dach aus sah Mimi die zum Meer
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