Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
warum du nie geweint hast, obwohl es wehgetan hat: Es gibt eine Art von Schmerz, die man einfach nicht laut ausdrücken kann.
Ich kannte das Wort Pflegefamilie sonst nur aus Büchern und Fernsehsendungen. Ich habe mir immer vorgestellt, dass so etwas nur für Straßenkinder ist, für Kinder, deren Eltern Drogendealer sind – nicht für Mädchen wie mich, die in netten Häusern wohnen, viele Weihnachtsgeschenke bekommen und nie hungrig zu Bett gehen. Wie sich herausstellte, war Mrs. Ward, die Pflegemutter, nicht anders als andere Mütter auch. Ich nehme an, sie war auch eine – jedenfalls den Fotos nach zu urteilen, mit denen nahezu jede Wand gepflastert war. In einem roten Bademantel und Pantoffeln, die wie rosa Schweinchen aussahen, empfing sie uns an der Tür. »Du musst Amelia sein«, sagte sie und öffnete die Tür ein wenig mehr.
Ich hatte eine ganze Schar von Kindern erwartet, doch wie sich herausstellte, war ich bei ihr das einzige. Sie führte mich in die Küche, die nach Spülmittel und gekochten Nudeln roch. Dort stellte sie dann ein Glas Milch und eine Stange Kekse vor mich hin. »Du hast sicher großen Hunger«, sagte sie. Das stimmte zwar, aber ich schüttelte trotzdem den Kopf. Ich wollte nichts von ihr annehmen, denn das wäre nichts anderes als eine Kapitulation gewesen.
Mein Schlafzimmer verfügte über eine Kommode, ein kleines Bett und eine Daunendecke, die über und über mit Kirschen bedruckt war. Es gab auch einen Fernseher mit Fernbedienung. Meine Eltern hätten mir nie einen Fernseher ins Zimmer gestellt; meine Mutter sagte immer, das Fernsehen sei die Wurzel allen Übels. Das sagte ich später Mrs. Ward, und sie lachte. »Das mag durchaus sein«, erklärte sie, »aber manchmal sind die Simpsons einfach die beste Medizin.« Sie öffnete eine Schublade und holte ein sauberes Handtuch sowie ein Nachthemd heraus, das mir mehrere Nummern zu groß war. Ich fragte mich, woher es wohl stammte und wie lange das letzte Mädchen darin geschlafen hatte.
»Mein Zimmer ist ein kleines Stück den Flur hinunter, falls du mich brauchst«, sagte Mrs. Ward. »Kann ich dir sonst noch etwas besorgen?«
Meine Mutter.
Meinen Vater.
Meine Schwester.
Mein Zuhause.
»Wie …« Mühsam brachte ich die ersten Worte in diesem Haus hervor. »Wie lange muss ich hierbleiben?«
Mrs. Ward lächelte traurig. »Das weiß ich nicht, Amelia.«
»Sind meine Eltern … Sind sie auch bei fremden Leuten?«
Sie zögerte. »So ungefähr.«
»Ich möchte Willow sehen.«
»Das ist das Erste, was wir morgen machen«, sagte Mrs. Ward. »Wir werden ins Krankenhaus fahren. Gefällt dir das?«
Ich nickte. Ich wollte ihr unbedingt glauben. An diesem Versprechen hielt ich mich fest wie daheim an meinem Plüschelch. Alles wird gut , konnte ich mir einreden.
Ich lag auf dem Bett und versuchte, mich an die nutzlosen Informationshäppchen zu erinnern, die du immer heruntergerasselt hast, bevor wir schlafen gegangen sind und ich dir gesagt habe, du sollst endlich den Mund halten: Frösche müssen vor dem Schlucken die Augen schließen. Mit einem einzigen Bleistift kann man einen fünfunddreißig Meilen langen Strich ziehen. Cleveland rückwärtsgesprochen ergibt DNA Level C .
Allmählich verstand ich, warum du diese dummen Fakten mit dir herumgetragen hast wie andere Kinder ihre Schnuffeldecken: Wenn ich sie mir immer wieder vorsagte, fühlte ich mich fast schon besser. Nur weiß ich nicht, ob das daran lag, dass es half, etwas zu wissen, während der Rest des Lebens ein einziges großes Fragezeichen war, oder daran, dass sie mich an dich erinnerten.
Ich war noch immer hungrig – oder leer, ich weiß es nicht. Nachdem Mrs. Ward in ihr eigenes Zimmer gegangen war, stieg ich auf Zehenspitzen aus dem Bett. Ich schaltete das Licht im Flur an und ging in die Küche hinunter. Dort öffnete ich den Kühlschrank und ließ das Licht und die Kälte auf meine nackten Füße fallen. Ich starrte auf gebratenes Fleisch, das sorgfältig in Plastiktüten portioniert war, auf Äpfel und Pfirsiche in einem Korb und Tetrapaks mit Orangensaft und Milch, die superordentlich nebeneinanderlagen. Als ich glaubte, von oben ein Knarren zu hören, schnappte ich mir, so viel ich konnte: einen Laib Brot, eine Tupperdose mit gekochten Spaghetti und eine Handvoll von diesen Keksen. Dann lief ich in mein Zimmer zurück, schloss die Tür und breitete meinen Schatz auf dem Laken aus.
Zuerst knabberte ich nur an den Keksen. Doch dann knurrte mir der Magen,
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