Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
und ich aß alle Spaghetti – mit den Fingern, weil ich keine Gabel hatte. Anschließend aß ich ein Stück Brot und dann noch eines und noch eines, und bevor ich mich versah, war nur noch die Plastikfolie übrig, in die es eingewickelt gewesen war. Was ist mit mir los? , dachte ich und schaute mir mein Bild im Spiegel an. Wer isst denn einen ganzen Laib Brot? Mein Äußeres war schon widerlich genug – langweiliges braunes Haar, das sich je nach Wetter auch noch kräuselte, Augen, die zu weit auseinanderstanden, schiefe Zähne und Speckröllchen über der Jeans –, aber mein Inneres war noch schlimmer. Ich stellte es mir als schwarzes Loch vor – ja, das aus dem Physikunterricht –, finster und alles verschlingend. Ein Vakuum aus Nichts , hatte mein Lehrer es genannt.
Alles, was je gut in mir gewesen war oder was die Leute Gutes in mir gesehen hatten, war vergiftet worden, weil ich mir im finstersten Teil meiner Seele gewünscht hatte, ich hätte eine andere Familie. Mein wirkliches Ich war eine widerwärtige Person, die sich ein Leben vorstellte, in dem du nie geboren worden warst. Mein wirkliches Ich hat zugeschaut, wie du in den Krankenwagen geschoben worden bist, und hat sich einen Augenblick lang gewünscht, nicht mitfahren zu müssen, sondern in Disney World bleiben zu können. Mein wirkliches Ich war eine bodenlose Seele, die einen ganzen Laib Brot in zehn Minuten essen konnte und immer noch Platz für mehr hatte.
Ich hasste mich.
Ich weiß nicht, warum ich dann nach nebenan ins Badezimmer gegangen bin und mir den Finger in den Hals gesteckt habe. Vielleicht lag es an dem Gefühl, dass mir das Gift ins Blut sickerte, und ich wollte es loswerden. Oder ich wollte mich selbst bestrafen. Oder die Kontrolle über dieses schwarze Loch erlangen, das eben unkontrollierbar alles verschlungen hatte; womöglich würde sich dann auch der Rest von mir beherrschen lassen. Ratten können sich nicht übergeben , schoss es mir durch den Kopf – das hast du mir mal erzählt. Jedenfalls hielt ich mir mit einer Hand das Haar hoch und erbrach mich in die Toilette, bis ich schwitzte, ein knallrotes Gesicht hatte und völlig leer war. Erleichtert stellte ich fest, dass ich wenigstens eine Sache richtig machen konnte, auch wenn es mir danach noch mieser ging als vorher. Mein Magen drehte sich; ich schmeckte Galle im Mund und fühlte mich noch furchtbarer als vorher – doch jetzt hatte dieses Gefühl einen eindeutig körperlichen Grund, auf den ich mit dem Finger zeigen konnte.
Geschwächt taumelte ich zu dem fremden Bett zurück. Meine Augen fühlten sich wie Sandpapier an, mein Hals schmerzte, und ich konnte nicht einschlafen. Darum griff ich nach der TV -Fernbedienung und schaltete durch die Kanäle, durch Heimwerkershows, Cartoons und Late-Night-Talkshows. Es war auf Nick at Nite , nach zweiundzwanzig Minuten der Dick Van Dyke Show : Plötzlich lief da der alte Disney-World-Spot wie ein böser Scherz, wie eine höhnische Erinnerung. Es war wie ein Schlag in die Magengrube: Da war Tinker Bell, da die glücklichen Leute und da die Familie auf dem Teetassenkarussell, die wir hätten sein können.
Was, wenn meine Eltern nie wieder zurückkommen würden?
Was, wenn du nicht wieder gesund werden würdest?
Was, wenn ich für immer hierbleiben müsste?
Als ich zu schluchzen begann, stopfte ich mir einen Kissenzipfel in den Mund, damit Mrs. Ward mich nicht hörte. Ich schaltete den Fernseher stumm und schaute zu, wie die Familie sich in Disney World fröhlich im Kreis drehte.
Sean
Es ist schon komisch, nicht wahr, wie man sich in seiner Meinung zu hundert Prozent sicher sein kann, bis man selbst in die entsprechende Lage kommt. Wie zum Beispiel eine Festnahme. Menschen, die nicht für das Gesetz arbeiten, finden es furchtbar, wenn jemand irrtümlich festgenommen wurde, selbst dann, wenn ein begründeter Verdacht bestanden hat. Aber als Polizist entlässt man die Person einfach wieder und sagt ihr, man habe nur getan, was man habe tun müssen. In jedem Fall sei das besser, als zu riskieren, dass ein Verbrecher auf freiem Fuß bleibt, habe ich immer gesagt. Zum Teufel mit den Bürgerrechtlern, die einen Täter nicht mal erkennen, wenn er ihnen ins Gesicht spuckt. Das war es, was ich aus tiefstem Herzen geglaubt habe, bis man mich selbst unter dem Verdacht der Kindesmisshandlung aufs Revier der Polizei von Lake Buena Vista brachte. Ein Blick auf deine Röntgenbilder, auf Dutzende noch nicht ganz verheilte Brüche, auf
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