Zerfetzte Flaggen
»Hat der Kommandant Quinns Chancen zunichte gemacht, Neu?«
Cairns betrachtete ihn nachdenklich. »Nein, ich tat es. Ich wurde Zeuge seines Versagens, war aber nicht so beteiligt wie du. Stell dir vor, du wärst von einem französischen Scharfschützen oder von einer Kettenkugel getroffen worden – meinst du, Quinn hätte das Vorschiff halten und die Enterer zurückschlagen können?« Er lächelte traurig und ergriff Bolithos Arm. »Ich verlange nicht von dir, daß du einen Freund verrätst, aber du weißt so gut wie ich, daß wir vor der Argonaute hätten die Flagge streichen müssen, wenn Quinn vorn das Kommando gehabt hätte.« Er blickte zur Back, wahrscheinlich sah er die Szene noch einmal vor sich, wie auch Bolitho sie wieder durchlebte. Er fügte hinzu: »Diese Menschenleben zählen mehr als die Ehre eines jungen Mannes.«
Bolitho fühlte sich elend. Er wußte, daß Cairns recht hatte, empfand aber nur Mitleid für Quinn. »Wie werden sie entscheiden?«
Cairns erwiderte: »Der kommandierende Admiral wird die Umstände in Betracht ziehen. Es hat lange genug gedauert, bis alles ans Licht gekommen ist. Er wird auch Quinns Vater kennen, dessen Macht in London.« Bolitho hörte Bitterkeit heraus, als Cairns hinzufügte: »Aufhängen wird man ihn nicht.«
Nach dem Lunch trat der Ausschuß wieder zusammen, und es erwies sich, daß Cairns recht gehabt hatte.
Der Untersuchungsausschuß hatte entschieden, daß Leutnant James Quinn wegen seiner im Kampf erhaltenen Verwundung nicht mehr in der Lage war, aktiven Dienst zu leisten. Nach Bestätigung des Urteils durch den Oberbefehlshaber sollte er ausgeschifft we rden, um auf dem Festland eine Gelegenheit zur Rückkehr nach England abzuwarten. Dort würde man ihn dann entlassen.
Niemand außerhalb der Marine brauchte von dieser Schande zu erfahren – außer dem einen, den es wirklich anging. Bolitho bezweifelte, daß Quinn diese Bürde lange mit sich herumtragen konnte.
Zwei Tage später, als Quinns Schicksal noch unbestätigt war, lichtete die Trojan Anker und lief aus.
Er sollte offenbar doch noch eine Gnadenfrist bekommen.
Zweieinhalb Tage nach dem Auslaufen aus English Port steuerte die Trojan bei steifem, achterlichem Wind rechtweisend West unter Fock und gerefften Marssegeln. Es war eine gute Gelegenheit, die neuen Leute bei den verschiedensten Segelmanövern einzuexerzieren, zumal bei dem groben Seegang, der Spritzwasser über das Achterdeck schickte, während der Klüverbaum zum dunstigen Horizont wies.
Bis auf ein paar kleine Inseln weit an Steuerbord war die See leer, eine endlose, blaue Wüste mit langer, schaumgekrönter Dünung, welche für die Stärke des Windes zeugte.
Bolitho wartete am Backbord-Laufsteg; der Duft starken Kaffees wärmte ihm den Magen, während er sich auf die Übernahme der Nachmittagswache vorbereitete. Bei so vielen neuen Gesichtern und Namen, der ständigen Mühe, die guten Seeleute zu entdecken und auch die ungeschickten, die an jeder Hand fünf Daumen zu haben schienen, war er ständig hart eingespannt. Aber er spürte trotzdem die gespannte Atmosphäre an Bord: verwirrte Resignation in den unteren Decks, Verbitterung bei den Offizieren.
Die Trojan war nach Jamaika beordert worden, bis zum Deck vollgepackt mit Marineinfanteristen, die der Admiral schickte, um dort Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten, und zwar auf des Gouverneurs dringende Bitten hin. Schwere See hatte viele von Jamaikas örtlichen Handelsschiffen zu Wracks geschlagen, und um das Maß voll zu machen, gab es Nachrichten von einem neuen Sklavenaufstand auf zwei größeren Plantagen. Rebellion schien überall in der Luft zu liegen. Wenn Britannien seine karibischen Besitzungen halten wollte, dann mußte es jetzt handeln und durfte nicht warten, bis Frankreich und möglicherweise auch Spanien einige der zahlreichen Inseln besetzte.
Bolitho vermutete, daß Pears diese Rolle mit anderen Augen sah.
Während sich die Flotte auf die unvermeidliche Ausweitung des Krieges vorbereitete, während jedes Linienschiff dringend gebraucht wurde, schickte man ihn nach Jamaika. Seine Trojan hatte die Aufgabe eines Truppentransporters übernommen, mehr nicht.
Selbst des Admirals Erklärung, daß die Trojan keinen Geleitschutz brauche und daher andere Schiffe für weitere Einsätze freimache, hatte keine Wirkung. Jeden Tag ging Pears auf seinem Achterdeck auf und ab, zwar noch wachsam alles überblickend, was sein Schiff und dessen Routine betraf, aber im Innersten allein
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