Zimmer Nr. 10
hier und haben Fragen gestellt. Ich war hier.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern«, antwortete der Portier.
»Sie hat im selben Zimmer gewohnt«, fuhr Winter fort.
»Wie wer?«
»Ney. Paula Ney.«
»Neunzehnhundertsiebenundachtzig?« Der Mann sah sich um, als suchte er einen Zeugen, der ihm bestätigen konnte, dass Kommissar Winter betrunken oder verrückt war. Hier kamen ja alle möglichen Typen herein. »Siebenundachtzig? Ich erinnere mich an gar nichts aus den achtziger Jahren.«
»Sie scheinen sich auch an die letzte Woche nicht zu erinnern.«
Der Mann antwortete nicht. Er hatte schon darauf geantwortet. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass die Frau eingecheckt hatte, basta. Ständig kamen und gingen Leute, und alles, was er wusste, war, dass sie alle Hotelgäste waren. Jemand hatte den Schlüssel zum Zimmer Nummer 10 gehabt, aber er konnte sich nicht daran erinnern, ihn der Frau ausgehändigt zu haben.
»Hat das Hotel viele Stammgäste?«, fragte Winter.
Der Mann wirkte noch verblüffter.
Winter verstand, warum. Die Frage war falsch gestellt.
»Männliche Stammgäste.«
»Einige Geschäftsleute.« Der Portier lächelte.
»Welche, die Sie wieder erkennen?«
»Ich erkenne nie jemanden wieder.« Der Mann gähnte, ein breites Gähnen. Demonstrativ.
»Haben Sie was an den Augen?« Winter sprach lauter.
»Was? Nein …« Der Mann renkte sich bei einem neuerlichen Gähnen fast den Kiefer aus. »Ich hab doch nichts getan!«, protestierte er einige Sekunden später. »Sie brauchen doch nicht gleich wütend zu werden.«
»Hier ist ein Mord passiert, und Sie spielen den tauben und blinden Idioten. Reißen Sie sich zusammen, Mensch!«
Der Portier sah sich wieder um. Immer noch kein Zeuge in der Eingangshalle, niemand hinter der verräucherten breitblättrigen Zimmerpflanze, die am Ende der Treppe vor sich hin welkte, niemand auf dem Weg die Treppe hinauf oder hinunter, niemand hinter einer halb offenen Tür, die wer weiß wohin führte, niemand hinter der Palme, die in einem Topf am Eingang stand. Winter war in Gedanken plötzlich wieder in den Tropen, ausgelöst durch die Palme, den Ventilator, der über ihnen an der Decke surrte, und durch die feuchte Wärme, die hier drinnen herrschte. In den letzten Tagen hatte der Spätsommer tropische Ausmaße angenommen. Winters Hemd war schweißnass. Und die Rezeption des »Revy« erinnerte an ein Hotel im Kolonialstil oder an eine entsprechende Kulisse. Dies war die Filmversion der Tropen. Aber dieser Film war real.
»Also«, sagte Winter und holte seinen Block hervor.
Kriminalinspektor Fredrik Halders lehnte den angebotenen Kaffee dankend ab. In dieser Wohnung wollte er auf keinen Fall Kaffee trinken. Ihm war klar, wie sie sich fühlen mussten. Das Paar vor ihm schleppte sich durch die Tage, und da half weder Kaffee noch Kuchen. Auch kein Alkohol. Halders hatte es mit Alkohol versucht, als seine Exfrau, die Mutter seiner beiden Kinder, von einem Betrunkenen überfahren worden war. Er hatte nicht sofort angefangen zu trinken, erst Monate nach Margaretas Tod. Halders hatte gespürt, wie der Schock langsam nachließ und ihn der blanke Hass durchströmte, und da hatte er mit dem Trinken angefangen, um den Hass in Schach zu halten, um sich selbst stillzulegen, passiv zu werden, um nicht mit dem Mörder abzurechnen oder aus dessen Mordwerkzeug Kleinholz zu machen. Halders wusste, wo das verdammte Auto stand, vor der Villa, die darauf wartete, in Brand gesteckt zu werden.
Er hatte sich aus der Krise gesoffen und sich hinterher geschämt. Nicht, weil er seinen Plan, den Mörder am Lenkrad umzubringen, nicht in die Tat umgesetzt hatte, sondern weil er sich mit Alkohol betäubt hatte. Er hätte Antialkoholiker werden sollen, und das war er jetzt fast. Da war noch ein Spielraum, noch hatte er Zeit, es war zu früh für die AA, noch war er kein Alkoholiker. Er trank Kaffee, literweise. Aber nicht hier.
Mario und Elisabeth Ney mochten Hass empfinden, vielleicht waren sie auch nicht fähig zu hassen. Halders hatte sie nach möglichen Feinden gefragt, die Paula gehabt haben könnte. Wer konnte so hassen?
»Alle mochten Paula«, sagte Elisabeth Ney.
Dies war eine der beliebtesten Floskeln, aber nicht in ihren Augen. Elisabeth Ney sah aus, als meinte sie es ernst. Für Halders galt das Gegenteil. Ihn mochte nicht jeder. Jetzt war es besser, er konnte seine Freunde an einer Hand abzählen, früher hatte jahrelang ein erhobener Zeigefinger gereicht. Der für ihn
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